ÄNX – Wie aus Angst virtuelle Kunst in der Augmented Reality wird

Fast 60 Millionen Menschen in Europa leiden unter Angstzuständen. Sucht und Depression können die Folge sein. Was wäre, wenn uns Technologie helfen könnte, selbst einen Weg aus der Angst zu finden? Wir wollen euch unser Konzept für ÄNX vorstellen – einen kleinen, runden Handschmeichler, der uns Angst in Augmented-Reality-Skulpturen verwandeln lässt. Was haltet ihr davon?

Von Jan Meissner, bei 1E9 als @j.meissner, und Andrea vorm Walde, bei 1E9 als @AndreavW

Angst und Unsicherheit gehören zu unserem Leben. Angst ist vor allem ein Urinstinkt und ein wichtiges Signal, das uns vor Gefahren warnt und schützt. Wenn Angst aber unspezifisch wird, das heißt nicht auf einen realen und konkreten Auslöser fokussiert, oder wenn alltägliche Sorgen, die uns alle umtreiben, ein Ausmaß erreichen, das uns von einem normalen Leben abhält, dann ist Aufmerksamkeit geboten.

Die individuellen Sorgen im Alltag, aber auch wirtschaftliche Kapriolen und die Globalisierung setzen den Menschen zu. Der Druck in bestimmten Lebensphasen sorgt für Unsicherheit und die Kehrseite der fortschreitenden Digitalisierung und technischen Weiterentwicklung – unsere ständige Erreichbarkeit und eine damit verbundene Erwartungshaltung des Umfeldes – verhindert Phasen von Ruhe und Besinnung.

Was also liegt näher, als uns eben diesen Fortschritt zunutze zu machen und ihn umzudrehen zum Katalysator gegen eben diesen Stress und die drohende Angstspirale?

Technologie wird vom Fluch zum Segen

Wir hatten die Idee, ein Hilfsmittel zu finden, das den Betroffenen eine Möglichkeit zur Selbsthilfe gibt, bevor die Angst unter Umständen krankhaft wird. Wir wollten einen Weg für die Betroffenen schaffen, der individuellen Verunsicherung einen konstruktiv-kreativen Ausdruck zu verleihen, verbunden mit einer sozialen Komponente.

ÄNX ist das Ergebnis unseres Gedankenexperiments: Was wäre, wenn Technik uns zu einem konstruktiven Umgang mit unserer eigenen Unsicherheit anleitet? Unser Konzept vereint Generative Design mit Augmented Reality und motorische Ablenkung mit bewusster Atemtechnik. Individuelle Ängste werden zu positiven Kommunikationsanlässen. Es ist kein therapeutisch zugelassenes Heilmittel, sondern ein Alltagsgegenstand, der jedem Menschen erlaubt, seine negativen Gefühle, Ängste und Unsicherheiten zu kanalisieren und sich in kreativer Art und Weise davon zu lösen. Durch die Interaktion mit ÄNX entstehen virtuelle Kunstwerke.

ÄNX ist der Handschmeichler 4.0

Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers beschreibt die Angst als „ein häufiges und qualvolles Gefühl. Die Furcht ist auf etwas gerichtet, Angst ist gegenstandslos.“ Diese nicht zu greifende Gegenstandslosigkeit federn wir ab, indem wir dem Betroffenen (im wahrsten Sinne des Wortes) etwas in die Hand geben. Einen Handschmeichler, einen Fidget-Spinner, der nächsten Generation, wenn man so will.

Das bewusste lange Ausatmen aktiviert das ÄNX-Device und hilft den Betroffenen gleichzeitig einen entspannten Atemrhythmus wiederzufinden. Denn häufig geht Angst mit körperlichen Symptomen einher, die belastend und körperlich zehrend sind. Das bewusste oder auch unbewusste Spiel mit dem Gerät schafft im virtuellen Hintergrund eine einzigartige 3D-Skulptur aus Farben, Formen, Strukturen und Lichtern. Jede Skulptur ist dabei so einzigartig wie ihr Erschaffer und seine Gefühle in dem Moment.

Lässt der Stress nach bzw. ebbt die Angst ab, kann sich der Teilnehmer der ÄNX-Community auf beliebigen digitalen Endgeräten seine Skulptur anschauen. Sie steht in der Augmented Reality. Mitten in der Stadt, im Büro oder Zuhause. Statt also betreten ob der erlittenen Attacke dem Alltag wieder nachzugehen, hält ÄNX ihn oder sie dazu an, noch kurz im Moment zu verweilen und zu sehen, was er oder sie geschaffen hat: eine Skulptur seines aufgewühlten Geistes.

Die ÄNX-Community als soziales Umfeld

Danach liegt es am User, ob er sein Werk an Ort und Stelle löscht oder dauerhaft in die Augmented Reality entlässt, wo andere sie finden, sehen und darüber mit dem Erschaffer in Kontakt treten können. Denn als Teil der Änx-Community ist man mit seinen Sorgen nicht allein, sondern findet Artefakte im gesamten urbanen Raum. Eben dort, wo Büromenschen sich den Kopf zerbrechen und Stress empfinden, aber gleichzeitig aufgeschlossen gegenüber elektronischen Helfern sind.

Aktuell reden wir von einer Konzeptstudie. Das bedeutet: Leider können wir euch noch keine Testgeräte schicken. Allerdings findet die Idee bei vielen Kollegen und Freunden des Hauses Anklang, so dass es sich lohnt, weiter darüber nachzudenken und auch mal mit Experten und Betroffenen zum Thema Angststörungen zu sprechen.

Bis dahin freuen wir uns aber erst einmal über Euer Feedback als Leser des Artikels: Ist es angemessen, psychischer und emotionaler Belastung mit Technik entgegenzutreten? Welche Aspekte müssten wir noch trennschärfer herausarbeiten? Was sind Eure persönlichen Strategien im Umgang mit Stress und Angst? Wir freuen uns auf den Diskurs mit Euch!

Jan Meissner ist Designer und Projektmanager bei Indeed Innovation in Hamburg. Gemeinsam mit seinem Kollegen Xuan Liu hat er sich Gedanken über die steigende psychische Belastung gemacht und dieses Fidget entwickelt.

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Danke @j.meissner und @AndreavW für den coolen Text und die coole Idee :slight_smile: Finde – schon unabhängig vom konkreten Plan, damit etwas gegen Angst und Verunsicherung zu tun – die Vorstellung eines virtuellen Kunst-Social-Networks über der realen Welt großartig. Selbst das langweiligste Büroviertel kann so für eine spannende Entdeckungsreise herhalten… und: soziale Netzwerke, die auf Kreativität beruhen und nicht auf Selbstdarstellung, sind doch viel schöner.

Bei aller Kritik finde ich persönlich deswegen auch TikTok gerade echt spaßig (als reiner Zuschauer): Dort sehe ich zumindest nicht nur schöne Menschen mit schönen Körpern, die schöne Dinge essen vor schönen Kulissen, sondern Menschen mit witzigen Ideen, die sich echt reingehängt haben, um was Kreatives zu erschaffen…

Jetzt noch konkreter zu eurem Konzept: Finde die Vorstellung, Momente der Angst in Interaktion mit einem Device, das mich beruhigt und mich kreativ sein lässt, eine sehr schöne… Würde mich allerdings interessieren, ob es belegt ist, dass so eine Beschäftigung tatsächlich gegen Angst helfen kann?

Und: Wenn man die Skulpturen teilt, wissen ja andere, wer wann wo Angst oder Verunsicherung erlebt hat. Das könnte evtl. dazu führen, dass viele nicht teilen. Denn obwohl es wunderbar wäre, wenn Menschen offen mit diesen Gefühlen und Nöten umgehen könnten, so sehr fürchte ich, dass es dann wieder andere gäbe, die das als Schwäche oder Fehler oder sonstwas einstufen oder sich lustig darüber machen… Könnte man also, sicherheitshalber, auch anonym teilen?

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Geht mir ebenso. Als ARKit rauskam hab ich derartige Apps ausprobiert. Ist seither etwas social-network-artiges entstanden?

Es gibt ja Maltherapien, die bei bestimmten psychischen Zuständen als Therapie verwendet werden. Das Malen mit Pinsel oder Stift ist sehr direkt und natürlich für unseren trainierten sensor-motorischen Apparat. Hier sehe ich auch die größte Schwierigkeit: die UX beim Kreieren solcher Objekte ist eine ganz andere.

Unabhängig davon finde ich aber auch genau die Kombination aus „Angst“ und solchen AR Objekten, die in der echten Welt schweben, aber doch als digitales Layer versteckt sind cool. Und auch spannend zu beobachten was Menschen in ihren negativen Gefühlslagen schaffen! Das wer was wann wo gemacht hat kann man sicher in den Griff bekommen → Blochchain :slight_smile: oder zumindest Dezentralisierung und Verschlüsselungstechniken gibt es ja zu genüge…

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Das Gute ist ja, dass sich so die Betroffenen untereinander über ihre Ängste austauschen und da fällt die Gefahr der falschen Einstufung als Schwäche schon per se weg. Aus meiner persönlichen Sicht ist gerade das ‚sich erkennen‘ Teil der Hilfe.

Zum Glück werden ja Burnout, Depressionen, Angststörungen immer mehr akzeptiert. Ich denke, es ist wichtig, auch dazu beizutragen. Teresa Enke, die Witwe des Torhüters Robert Enke, treibt das ja über ihre Stiftung auch weiter - derzeit ja auch über eine VR-Entwicklung. Das kennt Ihr sicher schon alle? https://robert-enke-stiftung.de/teresa-enke-und-jens-spahn-stellen-impression-depression-vor

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Hallo Wolfgang,

es freut mich dass Euch das Projekt gefällt.
Ergänzend muss gesagt werden, dass es maßgeblich auch von unserem früheren Praktikanten Xuan Liu mitentwickelt wurde. Selber unter Stress und Getriebenheit leidend, initiierte er das Grundkonzept in einem Kick-off. Wir sehen das Projekt als Gedankenspiel welches sicher Potential zur Umsetzung hat.
Inspiriert haben uns zu Beginn auch analoge Phygit Würfel. Erfolgreichstes Beispiel auf Kickstarter war zuletzt ein kleiner schwarzer Kubus mit unterschiedlichen Interaktions-Möglichkeiten. Statt 60k sammelte das Projekt weit über 2 Millionen Dollar. Der Bedarf, seine Nervosität bzw. Energie (negativ oder positiv) an etwas kleinem, haptischen auszulassen ist auf jeden Fall da.

Wir wollten diesen Output an Energie und Zeit tracken und sichtbar machen. Dazu sind wir den nächsten Schritt gegangen und haben unser neues Phygit digitalisiert und als visuelle Peripherie die App für smart Devices angedacht.

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Spannender und sehr wertvoller Artikel - Danke Euch!
Ein wichtiges Projekt; da jeder Erfahrungen mit Angst macht, bzw. gemacht hat - aus eigener Erfahrung das Kämpfen gegen Angst eher dauerhaft kontraproduktiv wird. Daher finde ich das visualisieren und dadurch transformieren in sichtbare und ästhetische Gebilde einen sehr interessanten Einstieg Angst nicht ‚als Feind‘ zu betrachten - sondern damit zu arbeiten.

Visualisierungen von u.a. Angstzuständen sind allerdings uralte Praktiken, es gibt z.B. in der tibetischen Tradition ein Ritual das ‚Chöd‘ genannt wird…irgendwann aus dem Jahre 1092 kam das nach Tibet. Bei dem das bloße Ausetzen in Angstzustände und Visualisierungen falsche Vorstellungen des Ichs zerschneidet (Tibetan: Chöd, Wylie: gcod lit. ‚abtrennen‘). Was das Anhaften an destruktive Geisteszustände untersucht und durchdringt.
Kleiner Ausflug, … aber immer noch aktuell…bin gespannt wie euer VR-Projekt weitergeht!

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