Der steigende Meeresspiegel bedroht zahlreiche Küstenstädte – auch in Europa. Wissenschaftler schlagen daher nun ein Megaprojekt vor, um den Wohnraum von Millionen Menschen zu retten. Zwei riesige Dämme sollen gebaut werden. Einer soll zwischen Schottland und Norwegen, einer zwischen Frankreich und England entstehen.
Von Michael Förtsch
Es klingt nach einem irrsinnigen Vorhaben, aber Sjoerd Groeskamp, ein Ozeanograf am Royal Netherlands Institute for Sea Research, und Joakim Kjellsson vom Helmholtz Centre for Ocean Research in Kiel meinen es durchaus ernst. Die Lage sei schließlich ernst. Der steigende Meeresspiegel könnte in den kommenden Jahrzehnten zu einem massiven Problem für zahlreiche Länder in Europa werden. Setzt sich die Erderwärmung ohne sonderliche Abschwächung fort, wird dieser bis zum Ende des Jahrhunderts um rund 1,10 Meter ansteigen. Alleine in Deutschland leben derzeit zwei Millionen Menschen in Gebieten, die dann im Meer versinken oder zumindest regelmäßig überflutet werden könnten. In ganz Europa sind es über 25 Millionen. Kann die Erderwärmung auf 1,6 Grad begrenzt werden, droht immer noch ein Anstieg um 50 Zentimeter. Dann wären weiterhin etliche Hunderttausend Menschen betroffen.
Was Sjoerd Groeskamp und Joakim Kjellsson vorschlagen: Es sollen zwei Dämme errichtet werden, die die Nordsee komplett umschließen und so deren Meeresspiegel regulier- und steuerbar machen. Einer der Dämme solle zwischen der Nordspitze Schottlands nahe Orkney und Bergen in Norwegen verlaufen, heißt es in ihrem Konzept. 476 Kilometer würde er durchmessen. Ein zweiter Damm solle sich vom Westende Frankreichs nach England spannen. Er wäre immerhin noch 161 Kilometer lang. Der Vorschlag erinnert an dystopischen Megabauwerke wie der Flutschutzmauer in Blade Runner 2049 , die Los Angeles vor einer stetig drohenden Überschwemmung bewahrt. Oder an den Plan des deutschen Architekten Herman Sörgel, der einst das Mittelmeer mit riesigen Dämmen absenken wollte.
Tatsächlich geben Groeskamp und Kjellsson in einem Paper, das jetzt im American Journal of Meteorology veröffentlichte wurde, zu, dass ihr Northern European Enclosure Dam – oder kurz: NEED – getauftes Konzept „zunächst nach einer überwältigenden und unrealistischen Lösung“ klingt. Aber wie ihre vorläufige Studie nahelege, seien die beiden Megadämme sowohl „finanziell als auch in Bezug auf Umfang, Auswirkungen und Herausforderungen potentiell günstig“ – zumindest im Vergleich mit Alternativen wie länderspezifischen Schutzmaßnahmen oder der Umsiedlung von betroffenen Menschen in andere Regionen.
Kein Guter Plan, aber trotzdem die beste Möglichkeit?
Sjoerd Groeskamp und Joakim Kjellsson kalkulierten basierend auf vergleichbaren Projekten wie dem niederländischen Damm Afsluitdijk oder der koreanischen Saemangeum Seawall, dass der Northern European Enclosure Dam zwischen 250 und 500 Milliarden Euro kosten könnte. Ein gigantischer Betrag, der jedoch, wenn er von den 14 Staaten, die die Schutzmauern vor Überflutungen bewahren würden, über einen Zeitraum von 20 Jahren investiert wird, weniger als 0,1 Prozent des gemeinsamen Bruttoinlandsproduktes ausmachen würde. Dennoch wäre NEED im Hinblick auf Technik, Architektur und Ingenieursleistung wohl das „größte zivile Bauvorhaben“, dem sich die Menschheit jemals gestellt hat, schreiben die beiden Wissenschaftler.
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Jetzt Mitglied werden!Die Dämme würden zusammengenommen eine Länge von 637 Kilometer erreichen – etwas länger als eine Autobahnfahrt von Hamburg nach Nürnberg. Der nördliche Damm müsste dabei vor der norwegischen Küste etappenweise Tiefen von 127 bis 320 Metern erreichen. „Verankerte Bohrinseln sind in Tiefen über 500 Metern machbar, während vertäute Bohrinseln in Gewässern von über 2.000 Metern Tiefe arbeiten“, schreiben die Autoren. „Das weist darauf hin, dass feste Konstruktion [wie die Dämme] mit einem Tiefbau von über 300 Metern machbar sind.“
Auch Pumpanlagen, die nötig wären, um den Pegelstand der Nordsee dauerhaft zu regulieren, wären baubar. Beispielsweise wurde in New Orleans im Jahr 2015 eine Anlage in Betrieb genommenen, deren Pumpen zusammengenommen 550 Kubikmeter pro Sekunde an Wasser fördern können. Zwei neue Pumpanlagen, die für den niederländischen Afsluitdijk geplant sind, sollen zusammen 400 Kubikmeter Wasser pro Sekunde transportieren können. Weniger als 100 derartiger Stationen könnten für NEED nötig sein. Sie könnten dabei auch genutzt werden, um das Ökosystem der Nordsee positiv zu beeinflussen. Beispielsweise könnte der Salzgehalt „über 100 Jahre um den Faktor 10 reduziert“ werden und dadurch die Vielfalt an Fischen und anderen Meerestieren vergrößert werden.
Was passiert mit den Häfen?
Eine „passende Lösung“, schreiben die Wissenschaftler, müsse definitiv aber noch für die Schifffahrt gefunden werden. Denn mit Rotterdamm, Antwerpen, Hamburg und Bremerhaven lägen einige der umschlagsstärksten Häfen in Europa zukünftig hinter den Sperren. Doch auch hier existieren technisch bewährte Optionen: Schleusentore, die „die Fortsetzung des Schiffsverkehrs ermöglichen“. In den Niederlanden und Belgien existieren bereits Schleusen, die für Schiffe mit bis zu 130 Metern Länge erprobt sind. Eine weitere Lösung: „Alternativ könnten Häfen an der Seeseite von NEED gebaut werden, von wo Güter auf Züge oder Schiffe umgeladen werden könnten, die innerhalb der Anlage verkehren.“
Dennoch geben die Wissenschaftler zu bedenken, dass die langfristigen Einflüsse der gigantischen Dämme auf die „maritime Industrie unsicher bleiben, sowohl ökonomisch als auch technisch.“ Allerdings gelte das auch für den Fall, dass die Dämme nicht gebaut werden. Denn der steigende Meeresspiegel würde eine ebenso starke, wenn nicht sogar stärkere Wirkung auf den Schiffsverkehr in Europa haben. Er würde Städte und Staaten langfristig zwingen, ihre Häfen zu verlegen und umzubauen, um sie anzupassen und gegen die Unwägbarkeiten der Wassermassen zu schützen.
Laut den Wissenschaftlern sei ihre Idee eines Northern European Enclosure Dam keine irreale Vision, sondern eine mit vorhandener Technologie meisterbare Herausforderung. Das bedeute aber nicht, dass es eine wünschenswerte Konstruktion sei. „Die bloße Erkenntnis, dass eine so umfangreiche Lösung wie NEED als eine praktikable und kosteneffektive Schutzmaßnahme erscheint, zeigt, wie außerordentliche die globale Bedrohung des weltweit steigenden Meeresspiegels ist“, schreiben Groeskamp und Kjellsson. Eine deutlich bessere Lösung sei es, den Klimawandel aktiv zu bekämpfen. Geschehe das allerdings nicht, wäre NEED wohl die einzig vernünftige Möglichkeit, Nordeuropa vor den Wassermassen zu bewahren.
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Teaser-Bild: Getty Images / Tom Casey