Virtuelle Welten erschaffen, eigene Gentechnik-Experimente durchführen oder Roboter programmieren. Es gibt viele Projekte und Initiativen, die es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, selbst mit Zukunftstechnologien zu experimentieren. Standard an allen Schulen ist das aber noch nicht.
Von Wolfgang Kerler
Manchmal bekommt man den Eindruck, Unterricht in Deutschland würde nur in mittelalterlichen Bruchbuden stattfinden – mit vorsintflutlicher Technik. Die KfW Bank vermeldet bei Schulen einen Investitionsrückstand von 44,2 Milliarden Euro. Schüler müssen Petitionen gegen dreckige und kaputte Toiletten starten. Und dass die meisten Schulen weder über WLAN noch über genug Computer verfügen, sollte spätestens durch die Coronakrise jeder mitbekommen haben. Wie sollen da der nächste Werner von Siemens, die nächste Lise Meitner oder der deutsche Elon Musk heranwachsen?
Zum Glück ist die Lage bei näherem Hinsehen nicht ganz so schlimm. Nicht erst in der Coronakrise, auch schon vorher bewiesen viele Schulen, dass sie erfolgreich Lust auf neue Technologien, auf Wissenschaft und Forschung vermitteln können. Zum Beispiel durch eigene Maker Spaces mit Roboterbausätzen und 3D-Druckern. Auch wenn Schulen mit derart gut ausgestatteten digitalen Werkräumen immer noch als Pioniere gelten.
Das Johann-Michael-Fischer-Gymnasium in Burglengenfeld, das gerade zur „Bayerischen Forscherschule des Jahres 2020“ gekürt wurde, zählt ebenfalls zu den Vorreitern. Dort können Schüler bei Projekten wie „TalkingTree“ oder „we4bee“ mitmachen, bei denen ein Baum beziehungsweise ein Bienenstock mit Sensoren ausgestattet werden, um dadurch den Einfluss von Wetter- und Klimafaktoren zu untersuchen. Oder sie arbeiten in der schuleigenen GmbH namens Pentagon mit. Die wartet nicht nur die PCs des Gymnasiums, sondern bietet einen Reparaturservice für die Rechner von Schülern, Lehrern und Eltern an und baut uns hostet sogar Webseiten für externe Kunden.
Zusätzlich zum normalen Lehrplan stehen auch Nanotechnologie-Projekttage zur Auswahl oder Experimente, um den genetischen Fingerabdruck von Menschen zu bestimmen. Und bei der jährlichen Wissenschaftsmesse präsentieren Schüler der 9. Klasse eigene Forschungsprojekte. Die besten werden ausgezeichnet. Dieses Jahr konnte sich die Erforschung von biologischem Waschmittel durchsetzen, gefolgt von der Konstruktion des perfekten Papierfliegers und der Herstellung von essbarer Verpackungsfolie.
„Es ist ganz wichtig, dass die Schüler selbst Hand anlegen an Technologien. Sie müssen selbstständig forschen“, sagt Schulleiter Matthias Schaller im Gespräch mit 1E9. „Dann kommt auch die Begeisterung.“ Daher die vielen Wettbewerbe, Projekttage, Arbeitsgruppen und Exkursionen. „Wir fangen damit schon in der 5. Klasse an“, sagt Schaller. „Da sind die Schüler besonders begeisterungsfähig. Da brennt noch was in ihnen. Und wenn wir sie da erreichen, dann bleiben sie auch später am Ball.“
Das viele Engagement zahlt sich aus: Regelmäßig belegen Schüler aus Burglengenfeld vordere Plätze bei „Jugend forscht“-Wettbewerben. Wie das gelingen konnte? „Wichtig sind natürlich motivierte Lehrkräfte, die begeistern können“, sagt der Schulleiter. Es brauche aber auch ein Netzwerk aus Partnern – Vereine, Hochschulen, Universitäten, Unternehmen. „Damit kann das eine Schule stemmen.“
Ob Aktionsplan oder Netzwerk, Hauptsache MINT
Das Johann-Michael-Fischer-Gymnasium gehört auch zum MINT-EC, dem nationalen Netzwerk von Schulen mit hervorragendem mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Schulprofil. Das umfasst immerhin 332 Schulen mit über 350.000 Schülerinnen und Schülern. Gefördert wird MINT-EC vor allem von der Industrie, die Kultusministerkonferenz hat die Schirmherrschaft. Und es ist längst nicht die einzige Initiative, die das Kürzel MINT im Namen hat. MINT steht für Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft sowie Technik. Und MINT-Förderung gibt es allerorten.
Das Bundesbildungsministerium hat 2019 einen 55 Millionen Euro umfassenden MINT-Aktionsplan vorgelegt, der diverse Fördermaßnahmen umfasst. Die Regierung unterstützt etwa das Haus der kleinen Forscher, das pädagogische Fachkräfte weiterbildet, damit sie MINT-Wissen an Kitas, Kindergärten und Grundschulen vermitteln können.
Auch einzelne Bundesländer haben Förderprogramme gestartet. So treibt die bayerische Staatsregierung die Bildung von regionalen MINT-Netzwerken voran, in denen sich Schulen, Forschungseinrichtungen, Vereine, Maker Spaces und andere Initiativen zusammenschließen können, die Angebote für Kinder, Eltern oder Lehrkräfte haben. Auf Dauer sollen alle Regionen auch eigene Schülerlabors oder Schülerforschungszentren bekommen.
VR und AR für alle – und CRISPR-Kits gleich dazu?
Dem FDP-Bundestagsabgeordneten Mario Brandenburg sind die bisherigen Maßnahmen allerdings zu viele „Tröpfchen“ und zu wenig großer Wurf – angesichts von weit über 30.000 Schulen in Deutschland. „Der Status Quo ist unfair“, sagt der technologiepolitische Sprecher seiner Fraktion im Gespräch mit 1E9. „Natürlich gibt es Vorzeigeschulen. Deswegen wäre es auch falsch zu sagen, alles ist verloren. Aber wir können uns doch nicht damit zufriedengeben, dass manche Glück haben und im richtigen Bundesland in der Nähe solcher Schulen wohnen und andere eben nicht.“
Im September brachte die FPD im Bundestag den Antrag für einen „Zukunftsvertrag für neue Technologien“ ein, in dem sie unter anderem ein Bund-Länder-Sofort-Programm forderte. Damit soll allen weiterführenden Schulen und Berufsschulen die Möglichkeit gegeben werden, Virtual Reality im Unterricht einzusetzen – zum Beispiel durch die Anschaffung günstiger VR-Cardboards aus Pappe, die Virtual Reality auch per Smartphone zugänglich machen, und die Bereitstellung von Programmlizenzen. Auch Online-Schulungen für Lehrkräfte sollte es geben.
Dass VR und AR dabei helfen können, komplexe Sachverhalte zu veranschaulichen, Lernstoff erlebbar zu machen und die Kreativität von Schülern anzuregen, wird aus Wissenschaft und Schulpraxis schon länger berichtet. Einem Dinosaurier in Lebensgröße gegenüber zu stehen ist eben eindrucksvoller als ein Bild im Lehrbuch. Und die Romanwelt einer Schullektüre in VR nachzubauen, fördert eine ganz neue Auseinandersetzung mit dem Stoff.
Mittelfristig wünscht sich Mario Brandenburg auch den gleichen Zugang zu anderen neuen Technologien – von Exoskeletten über 3D-Drucker bis zu Robotern – und das unabhängig davon, wo jemand zur Schule geht oder welche Schwerpunkte die eigene Schule setzt. Ein Schlüssel dazu ist aus seiner Sicht die Zusammenarbeit von mehreren Nachbarschulen, die jeweils unterschiedliche Technologiepakete bekommen, um sie gemeinsam zu nutzen. Außerdem steht im Antrag der FDP, dass es Schulen erlaubt werden soll, CRISPR-Kits einzusetzen.
Moderne Gentechnik im Klassenzimmer? Schwierig.
Ein CRISPR-Kit ist im Prinzip wie ein Chemiebaukasten – nur eben, um damit Experimente mit der sogenannten „Genschere“ CRISPR zu machen, für deren Entdeckung es dieses Jahr den Chemienobelpreis gab. Theoretisch könnte man mit einem Kit innerhalb von ein oder zwei Schulstunden einen echten, aber völlig ungefährlichen Gentechnikversuch machen. Im Darmbakterium E.coli wir dabei per CRISPR ein Gen zerstört, dass es den Bakterien nicht mehr erlaubt, sich blau zu färben. Ein Kit kostet etwa 100 Euro.
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Jetzt Mitglied werden!Allerdings ist der Einsatz solcher Kits in Deutschland im Unterschied zu anderen Ländern nur in speziellen Sicherheitslaboren erlaubt, über das so gut wie keine Schule verfügt. Für Vereine wie Science Bridge, die Gentechnik an Schulen erfahrbar machen wollen, ist das frustrierend. „Die eigene Arbeit an Experimenten schafft eine völlig andere Sichtweise auf die Technik“, sagt Wolfang Nellen, emeritierter Genetik-Professor und engagiert bei Science Bridge zu 1E9. „Leider ist Deutschland als Markt für CRISPR-Kits mit den wenigen professionell ausgestatteten Schülerlabors kaum attraktiv.“
Der Antrag von Mario Brandenburg und seiner Partei wurde Ende November von den anderen Fraktionen im Bundestag abgelehnt. Er wirft ihnen daher „Ambitionslosigkeit“ vor. „Es kann nicht sein, dass unser Ziel nur ist, in zehn Jahren so weit zu sein, wie andere es heute schon sind“, sagt er.
Der Fokus der Bundesregierung liegt zurzeit auf dem Digitalpakt Schule. Bei dem geht es nicht wirklich um Zukunftstechnologien, aber immerhin darum, endlich WLAN in alle Schulhäuser zu bringen. Und inzwischen ist sogar die Anschaffung von Dienstlaptops für Lehrer vorgesehen. Welchen Zugang zu Robotern, Gentechnik-Experimenten oder Virtual-Reality-Welten die Klassen haben, hängt aber weiterhin stark davon ab, wo die jeweilige Schule ist und wie gut sie die vorhandenen MINT-Förderprogramm, -Initiativen, und -Netzwerke nutzt.
Titelbild: Getty Images