Der Mars, der Mond, der Titan. Auf all diesen Himmelskörpern könnten sich Forscher und Milliardäre mit einem Faible für den Weltraum eine Kolonie der Menschheit vorstellen. Ein finnischer Meteorologe und Raumfahrttechniker hat jedoch einen anderen Vorschlag: Er will, dass wir den Zwergplanet Ceres in den Blick nehmen.
Von Michael Förtsch
Für Elon Musk ist der Mars der große Traum. Er hofft, dort schon in den nächsten Jahren mit einer Flotte seiner Starship-Raumschiffe den Grundstein für die erste extraterrestrische Kolonie der Menschheit zu legen. Nur wenn unsere Spezies interplanetar wird, werde sie eine Zukunft haben, glaubt der SpaceX-Gründer. Auch die NASA schaut in Richtung des roten Planeten, wenn es um den Aufbau eines Vorpostens der Menschheit geht. Andere Weltraumvisionäre sind hingegen der Meinung, dass unser Mond und der Saturn-Mond Titan ebenfalls Beachtung verdienen. Geht es allerdings nach dem finnischen Raumfahrttechniker und Meteorologen Janhunen Pekka gibt es noch einen weiteren Kandidaten für die Kolonisierung. Einen, den bislang fast ausschließlich die Science Fiction im Blick hat, der aber ein großes Problem lösen könnte.
Wenn die ersten Menschen auf dem Mars siedeln, werden sie mit fremden Umweltbedingungen zurechtkommen müssen. Mit kargen Landschaften, extremer Kälte und kosmischer Strahlung. Doch einer der spürbarsten Unterschiede zum Leben auf der Erde wird die Gravitation sein, die deutlich niedriger ausfällt als hier. „Mir ist klar geworden, dass eine Mars-Kolonie schon bald Realität werden könnte“, sagt Pekka im Gespräch mit 1E9. „Und ich mache mir ernsthafte Sorgen, dass die niedrige Schwerkraft dazu führen könnte, dass [dort geborene] Kinder nicht zu gesunden Erwachsenen heranreifen.“ Selbst wenn die Forschung zum Leben in niedriger Schwerkraft noch rudimentär ausfällt, ist klar, dass diese Bedingungen für den menschlichen Körper gesundheitliche Folgen haben. Insbesondere, was die Ausprägung der Muskulatur und Knochenstruktur betrifft.
Müssten Menschen, die lange oder fast ausschließlich auf dem Mars lebten, irgendwann zur Erde umsiedeln, könnten sie ernsthafte Anpassungsprobleme haben und Traumata erleiden. „Das gleiche Problem besteht bei Mond und Titan“, sagt Pekka, der vor allem für das Finnische Meteorologische Institut arbeitet, das schon Instrumente und Experimente entwickelte, die auf Mars und Titan landeten. Daher sei es besser, eine Kolonie zu errichten, in der eine erdähnliche Gravitation vorherrscht – oder: erzeugt werden kann. Der Ort, den sich Janhunen Pekka für eine derartige Weltraumkolonie ausgesucht hat, wirkt dabei zunächst wenig einladend – ja, geradezu unpassend. Es handelt sich um Ceres, einen kreisrunden Zwergplanet, der zusammen mit über 650.000 Asteroiden in einem Gürtel zwischen Mars und Jupiter umhertreibt.
Nicht auf Ceres, sondern um Ceres soll gesiedelt werden
Auf Fotografien der Raumsonde Dawn gleicht Ceres mit seinen Kratern und der grauen Oberfläche dem Mond – nur ist er viel, viel kleiner. Er durchmisst gerade einmal 964 Kilometer und verfügt über eine Anziehungskraft, die noch weit unter der von Mars und Mond liegt. Aber das ist für Pekka vollkommen nebensächlich. Denn die Kolonie soll nicht auf dem Zwergplaneten aufgebaut gewesen, sondern in seiner Umlaufbahn: als eine Art riesiger Satellit oder Raumstation. Auf einem solchen Gebilde eine Schwerkraft zu erzeugen, ist grundsätzlich nicht so schwierig – zumindest in der Theorie.
Die volle Schwerkraft von 1 g kann mit künstlicher Gravitation erreicht werden.
Janhunen Pekka
„Die volle Schwerkraft von 1 g kann mit künstlicher Gravitation erreicht werden“, erklärt Pekka. Das Konzept dahinter ist bereits Jahrzehnte alt. Künstliche Schwerkraft ist eigentlich Fliehkraft. Wird beispielsweise eine Schale in Rotation versetzt, werden Objekte darin nach und nach an die Innenseite des Randes gedrückt. Ist die Rotation konstant und das rotierende Objekt – etwa eine Raumstation – entweder groß oder schnell genug, ist die Fliehkraft für den menschlichen Körper nicht von der normalen Schwerkraft der Erde zu unterscheiden. Aufbauend auf diesem Konzept hatten bereits Visionäre wie Gerard K. O’Neill futuristische Ideen für Kolonien im All erdacht.
Die nach Gerard O’Neill benannten O’Neill-Zylinder beispielsweise sollen mehrere Kilometer durchmessende, lange Röhren sein. Da sie sich die gigantischen Gebilde ständig drehen, wäre es in der Theorie möglich auf der Innenseite eine erdähnliche Welt mit Wäldern, Feldern und sogar Flüssen aufzubauen. Einen solch gigantischen Zylinder zu konstruieren, wäre jedoch eine immense Herausforderung – und derzeit kaum zu stemmen. Außerdem wäre jeder Zylinder wie eine „isolierte Insel, die weit voneinander entfernt schweben“ würden, wie Pekka ausführt. Die Reisen zwischen ihnen wären schwierig und der Lebensraum ziemlich begrenzt.
Daher hat Pekka eine andere Idee. Er schlägt vor, statt einer vollends ausgebauten Kolonie zunächst einen großem „Rahmen“ zu bauen, der 100.000 Kilometer hoch im schwachen Schwerefeld von Ceres umhertreiben soll. Genauer gesagt, eine riesige Scheibe, in die, ganz ähnlich wie in einen Bierkasten, zahlreiche kleinere O’Neill-Zylinder hineingesteckt werden können. Die sollen von magnetischen Trägern ohne direkte Berührung in ihren Fassungen gehalten und dadurch in eine dauerhafte Drehung versetzt werden. Jeder Zylinder würde einen Kilometer im Querschnitt und zehn Kilometer in der Länge messen.
Der Meteorologe weiß durchaus, wovon er spricht. Denn eigentlich ist Janhunen Pekka auch Physiker mit Spezialisierungen auf Plasma-, Astrophysik und die irdische Magnetosphäre. Ingenieur ist er ebenfalls und hat als solcher am Kumpula Space Centre in Finnland ein elektrisches Sonnenwindsegel entwickelt und vor wenigen Jahren Plasmabremsen konzipiert, die nun vom Raumfahrt-Start-up Aurora Propulsion Technologies gebaut werden und bei der Steuerung und Entsorgung von Satelliten helfen sollen.
Viele Zylinder, eine Welt
In jeder Raumkolonie-Röhre gäbe es genug Platz für 56.700 Menschen – und deren Wohnungen, Arbeits- und Freizeiträume. Auch für kleine Wälder und Gärten, die auf einer rund 1,5 Meter hohen Erdschicht gedeihen könnten, wäre Fläche vorhanden. Einzelne Röhren könnten auch gänzlich als Wälder und Landwirtschaftszonen dienen. Sonnenlicht würde über riesige Parabolspiegel, die auf jeder Seite der Scheibe wie die Deckel einer Spieluhr abstehen, in die gigantischen Kanister reflektiert werden. Sie können auch einen Tag- und Nachtzyklus erzeugen. Laut Pekka könnte zunächst nur ein Zylinder in die Scheibe gespannt werden, um eine Kolonie zu starten.
Nach und nach könnten dann Dutzende weitere folgen – und die Ceres-Station ganz organisch wachsen. Theoretisch könnten Hunderte Millionen Menschen oder sogar Milliarden in den Kapseln leben, die untereinander mit einem in den Rahmen eingebauten Magnetschwebe-Schnellbahnsystem sowie Infrastruktur zum Luft- und Güteraustausch verbunden sein sollen. Zwischen den Zylindern würde es, da die Fliehkraft ausbleibt, zu einem kurzen Ausfall der Gravitation kommen. Es wäre, wie Pekka erklärt, „eine eng vernetzte Welt, die erst mal ganz klein anfangen kann.“
Das Konzept klingt, als könnte es in der Umlaufbahn nahezu jedes Planeten oder Mondes funktionieren. Und theoretisch ist das auch der Fall. Aber Ceres hat einen gigantischen Vorteil. „Ceres hat Stickstoff“, sagt Pekka. „Den Stickstoff brauchen wir, um in den Habitaten eine atembare Luft und erdähnliche Atmosphäre herzustellen.“ Unsere Luft besteht zu 78 Prozent aus Stickstoff. Sauerstoff macht nur 21 Prozent aus. Der Stickstoff könnte direkt auf Ceres abgebaut und über einen Weltraumaufzug zur Station transportiert werden.
Den Stickstoff brauchen wir, um in den Habitaten eine atembare Luft und erdähnliche Atmosphäre herzustellen.
Janhunen Pekka
Aber auch andere Ressourcen, die für den Betrieb und den weiteren Ausbau der Station gebraucht werden, könnten auf dem Zwergplaneten gefördert werden. Beispielsweise gibt es Eis auf Ceres. Laut bisherigen Analysen der NASA könnte der Asteroid sogar zu 25 Prozent aus Wassereis bestehen. Salze und Metalle gibt es womöglich auch. Und was nicht auf Ceres selbst vorhanden ist, ließe sich mit großer Wahrscheinlichkeit in den Asteroiden in der Nähe finden. Der Zweigplanet, dessen Oberfläche in ihren Ausmaßen der Landmasse von Argentinien gleicht, wäre der ideale Asteroiden-Bergbauvorposten.
Verstehe, was die Zukunft bringt!
Als Mitglied von 1E9 bekommst Du unabhängigen, zukunftsgerichteten Tech-Journalismus, der für und mit einer Community aus Idealisten, Gründerinnen, Nerds, Wissenschaftlerinnen und Kreativen entsteht. Außerdem erhältst Du vollen Zugang zur 1E9-Community, exklusive Newsletter und kannst bei 1E9-Events dabei sein. Schon ab 2,50 Euro im Monat!
Jetzt Mitglied werden!Pekka würde gerne mit Musk und Bezos sprechen
Janhunen Pekka glaubt, dass seine riesige Raumstationsscheibe durchaus ein lebenswerter Ort wäre. Einer, der der Erde zumindest nicht in vielen Aspekten nachstehen würde. Ja, vielleicht sogar besser sei, da es keine Klimakrise oder Umweltkatastrophen gäbe. Jedenfalls, falls das Umweltsystem gut funktioniert. Ganz ungefährlich wäre das Leben dort natürlich nicht. Schließlich würde die Station mitten in einem Asteroidengürtel schweben. Aber das Habitat könnte großen Asteroiden mit Manöverdüsen ausweichen und kleine Felsbrocken könnten rechtzeitig abgeschossen und zerstört werden. Mit Abfangraketen, Raumfahrzeugen oder Lasern, glaubt er.
Was nach einer Idee aus einem Science-Fiction-Film klingt, ist dem Meteorologen und Raumfahrttechniker zufolge nicht weit von der Realität entfernt. Eigentlich sei sein Konzept sogar schon umsetzbar, sagt er. „Mir scheint, dass im Grunde keine [dafür nötige] Technologie fehlt“, meint Pekka. Die Techniken, Bauteile und Materialien, die es für aktuelle Raumfahrzeuge und Raumstationen braucht, wären grundsätzlich die gleichen, die für seine Ceres-Station benötigt würden. Mit dem Starship von SpaceX sei auch bald ein Raumtransporter einsatzbereit, der für Reisen nach Ceres tauglich wäre.
Mir scheint, dass im Grunde keine [dafür nötige] Technologie fehlt.
Janhunen Pekka
Würde der Finne die Gelegenheit bekommen, würde er gerne mal mit den Weltraum-vernarrten Milliardären Elon Musk und Jeff Bezos sprechen. Denn er ist ziemlich sicher, dass sie mit seinem Plan für eine Raumstation im All bessere Chancen auf eine Kolonie jenseits der Erde hätten. Außerdem sei „viel von der Technik, an der sie arbeiten, sehr relevant [für unsere Zukunft im All]“, sagt er. „Es müssten Wissenschaftler wie ich in diese Prozesse eingebunden sein.“ Würde man sich entschließen, seinen Vorschlag anzugehen, beteuert der Finne, „würde ich denken, dass innerhalb von 15 Jahren die ersten Menschen [in die Raumstation um Ceres] einziehen könnten.“
Teaser-Bild: NASA