So könnte das Internet auch für blinde und sehbehinderte Menschen zugänglich werden

Deutschland hinkt bei der digitalen Barrierefreiheit hinterher. Anders als in den USA, Großbritannien oder Frankreich sind private Firmen nicht dazu verpflichtet, ihre Webseiten barrierefrei zu gestalten. Das Surfen im deutschen Netz fällt Menschen mit Sehbehinderung daher schwer. Wir haben mit Experten gesprochen, warum das so ist – und wie sich das ändern ließe.

Von Johannes Mairhofer und Wolfgang Kerler

Zuerst wollen wir um Entschuldigung bitten. Für Menschen, die nicht oder nur eingeschränkt sehen, wird auch dieser Artikel schwer zugänglich sein. Beim Test mit dem Barrierefreiheitsinspektor von Mozilla zeigten sich schon auf der Startseite von 1E9 über 1.800 Probleme. Das tut uns wirklich leid. Sobald unsere Finanzen eines unabhängigen Medien-Start-ups es zulassen, wollen wir daran etwas ändern.

Zumindest müssen wir so aber nicht mit dem Finger auf andere zeigen, um ein großes Problem des deutschen Internets zu benennen: Viel zu selten erfüllen Webseiten die Richtlinien zur Barrierefreiheit, die vom World Wide Web Consortium, kurz: W3C, festgelegt wurden. Was das für Nutzer bedeutet, warum es in anderen Ländern besser läuft und was dagegen – auch schnell und kostengünstig – getan werden könnte, wollten wir von drei Experten wissen. Hier kommen ihre Antworten.

Heiko Kunert, der Nutzer

Heiko Kunert ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenverbands Hamburg – und selbst blind. Am PC nutzt er den Firefox, am Smartphone den Safari-Browser. Aus Gewohnheit sagt er. Von Heiko wollten wir wissen, auf welche Schwierigkeiten er beim Surfen stößt.

1E9: Wie surfst du eigentlich im Netz?

Heiko Kunert: Ich surfe sowohl am Rechner als auch am Smartphone. Als blinder Mensch bin ich hierbei auf eine Screenreader-Software angewiesen, die den Bildschirminhalt so umwandelt, dass er von einer Sprachausgabe vorgelesen werden kann. Ich nutze die Screenreader JAWS von Freedom Scientific und den Screenreader von Apple, VoiceOver heißt der. Am PC habe ich zudem eine Braillezeile angeschlossen, ein Gerät, das den Bildschirminhalt zeilenweise in Blindenschrift ausgibt.

Wie können wir uns das vorstellen, wenn du eine Webseite aufrufst?

Heiko Kunert: Erst einmal ist wichtig zu wissen, dass ich als blinder Mensch nicht mit der Maus arbeite, sondern mit Kurztastenbefehlen. Zum Beispiel drücke ich am PC zum Eingeben der Webadresse oder des Suchbegriffs Strg+l. Dann gebe ich die Adresse ein und drücke die Enter-Taste. Wenn sich die Homepage aufbaut, nennt mir die Sprachausgabe den Seiten-Titel und gibt mir eine erste Übersicht, zum Beispiel so: „Seite enthält vier Regionen, 6 Überschriften und 49 Links.“

Mit der Taste r springe ich dann zum Beispiel von Region zu Region. Das können die Navigation, die Suche oder der Hauptinhalt sein. Mit der Taste h springe ich von Überschrift zu Überschrift. Und so gibt es viele weitere Möglichkeiten, mich auf einer Website zu orientieren. Wenn ich bei dem Inhalt bin, den ich lesen möchte, lasse ich ihn mir von einer künstlichen Sprachausgabe vorlesen. Wenn ich ein Wort mal nicht verstanden habe oder wissen will, wie zum Beispiel ein Name geschrieben wird, halte ich das Vorlesen an und lese das Wort mit den Fingern auf der Braillezeile nach.

Welche Punkte sind wichtig, damit du auf einer Webseite so barrierefrei surfen kannst?

Heiko Kunert: Damit ich so navigieren kann, wie oben beschrieben, braucht die Website sogenannte Orientierungspunkte, englisch: WAI-ARIA-Landmarks. Überschriften müssen im HTML als solche ausgezeichnet sein, damit mein Screenreader sie erkennt und ansteuern kann. Grafiken brauchen einen aussagekräftigen Alternativtext und PDFs, die zum Download angeboten werden, dürfen nicht einfach eingescannte Bilder sein, sondern müssen ebenfalls für den Screenreader zugänglich sein.

Und wo stehen wir in Deutschland bei der Umsetzung solcher Standards? Wie schätzt du die Situation ein?

Heiko Kunert: Insgesamt spricht sich das Thema der digitalen Barrierefreiheit schon rum. Es gibt aber auch immer wieder Rückschritte. Ein Kernproblem ist, dass hierzulande ein Großteil der Websites nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet sind. Das betrifft insbesondere die Privatwirtschaft. Erfreulich ist, dass sich dies zum Beispiel für den E-Commerce oder Banken durch EU-Vorgaben in Zukunft ändern wird.

Hast du ein paar Beispiele für uns, wo es jetzt schon gut läuft und wo noch Nachbesserungsbedarf besteht?

Heiko Kunert: Im Schnitt sehr gut aufgestellt sind insbesondere die Websites öffentlicher Stellen. Diese sind in der Regel zur Barrierefreiheit verpflichtet. So sind auch die meisten Webangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gut bedienbar. Manch eine kommerzielle Website dagegen ist so stark von rein visuellen Inhalten geprägt oder mit Werbung durchsetzt, dass sie für mich nicht oder nur schwer nutzbar ist. Auch in den sozialen Medien ist der Trend hin zu Fotos und Videos ein Problem. Hier bieten zum Beispiel Twitter, Facebook und Instagram zwar die Möglichkeit, eine für blinde Menschen lesbare Bildbeschreibung einzufügen. Leider machen hiervon aber nur die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer Gebrauch, nicht einmal die Social-Media-Kanäle großer Tageszeitungen und TV-Sender.

Welchen Effekt könnten Sprachassistenten haben? Könnten sie die klassischen Browser ablösen?

Heiko Kunert: In der Tat gibt es eine Gegenentwicklung zu der oben beschriebenen. Statt immer mehr auf Visualisierung zu setzen, bringen Sprachassistenten die Anforderung mit sich, Inhalte in reinen Text umzuwandeln. Das bietet für unseren Personenkreis der blinden und sehbehinderten Menschen enormes Potenzial. Zunehmend viele blinde und sehbehinderte Menschen nutzen auch Alexa, Siri und Co.

Marco Zehe, der Browser-Entwickler

Trotz der angesprochenen Sprachassistenten werden die meisten Webseiten noch mit einem Browser besucht. Wir haben mit Marco Zehe gesprochen, der sich bei Mozilla, der Organisation hinter dem Firefox-Browser, um Barrierefreiheit kümmert. Konkret gestaltet und testet er die Accessibility-Features der Software. Marco ist selbst blind. Bevor er Ende 2007 zu Mozilla kam, war er zum Beispiel maßgeblich an der Entwicklung des Screenreaders JAWS beteiligt, den auch unser erster Interviewpartner Heiko nutzt.

Von Mozilla stammt auch der Accessibility Inspector, zu Deutsch: Barrierefreiheitsinspektor, der für 1E9 die vielen Probleme gemeldet hat. Daher wollten wir von Marco wissen, warum gerade das deutsche Netz so schwer zugänglich ist und was andere Länder besser machen.

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1E9: Wie schätzt du den Status Quo in Deutschland ein? Gerade im internationalen Vergleich?

Marco Zehe: In Deutschland ist noch viel Arbeit nötig. Das Hauptproblem ist, dass bisher nur diejenigen zu Barrierefreiheit in ihren Webseiten und Apps verpflichtet sind, die mit öffentlichen Stellen zu tun haben. Alle privatwirtschaftlichen Firmen, die nicht gezwungen sind, internationale Standards wie in Großbritannien, den USA oder Kanada einzuhalten, kommen in Deutschland problemlos mit nicht barrierefreien Angeboten durch. In Frankreich, zum Beispiel, ist man da weiter: Hier müssen die Angebote aller privatwirtschaftlichen Unternehmen, die einen Jahresumsatz von 100.000.000 Euro oder mehr haben, barrierefrei sein. In Großbritannien und Kanada gilt dies sogar für alle Unternehmen.

Entscheider lassen sich leider immer noch nur mit Geldargumenten überzeugen. Solange sie nicht merken, dass eine nicht barrierefreie Seite durch Strafen richtig teuer werden kann, haben sie keinen wirklichen Anreiz, den Zustand zu verbessern. Da hilft meist auch nicht, dass eine nicht barrierefreie Website nicht nur Blinden im Wege steht, sondern potenziell 20 Prozent der Bevölkerung – und somit 20 Prozent der potenziellen Kundschaft einschränkt. 20 Prozent haben eine Einschränkung in irgendeiner Form, temporäre Behinderungen wie einen gebrochenen Arm noch gar nicht mitgerechnet. Dass das auch Leute sind, die Geld ausgeben wollen, ist vielen Entscheidern nicht klar – oder einfach egal.

Siehst du noch andere Ursachen dafür, dass im Jahr 2020 immer noch so wenig Seiten barrierefrei sind?

Marco Zehe: An den Universitäten wir immer noch kein inklusives Design gelehrt. Es muss alles hübsch bunt aussehen und mit der Maus klickbar sein. Schon beim Touchscreen eines Tablets fallen viele dieser Designs zwar auf die Nase, aber „man hat doch auch immer noch irgendwo einen Laptop rumstehen“. Solange sich hier nichts ändert und junge Entwickler*innen nicht mit einem entsprechend sensibilisierten Lehrplan studieren, ändert sich die Situation nicht. Sie müssen den Skill Barrierefreiheit dann erst im Berufsleben erlernen. Die wenigsten tun dies freiwillig, außer sie haben in der Familie oder im Bekanntenkreis jemanden mit einer Behinderung und sind dadurch sensibilisiert. Dieses Schaffen von Empathie, das Lehren des Denkens über den eigenen Fähigkeitshorizont hinaus, fehlt im tertiären Lehrsystem. Das ist aber ein weltweites Problem, nicht nur eines in Deutschland.

Was können die Betreiber von Internetseiten auch ohne großes Budget tun, um eine Webseite zumindest barrierearm zu bekommen?

Marco Zehe: Sie können die Grundlagen beherzigen. Dazu gehört, richtige HTML-Elemente anzuwenden und die Browser das Styling machen zu lassen. Betreiber sollten nur hier und da, wo nötig, das Design an eigene Wünsche anpassen und darauf achten, dass schon in der Designphase auf Farbkombinationen mit ausreichendem Kontrast geachtet wird. Von Anfang an mitzudenken macht es billiger, als hinterher nachbearbeiten zu müssen.

Wie lautet dein Wunsch an die die digitale Zukunft?

Marco Zehe: Ich wünsche mir, dass ich in 20 Jahren nicht immer noch fehlende Alternativtexte und kaputte Überschriftenstrukturen anmahnen muss, wie ich es seit über 20 Jahren tue.

Annett Farnetani, die Spezialistin für Webinhalte

Barrierefreies Webdesign ist das Spezialgebiet von Annett Farnetani, die bei der Agentur mindscreen arbeitet. Zu den Kunden der Münchner Digitalagentur gehören öffentliche Stellen wie der Bezirk Oberpfalz, die Universität Mainz oder die Städtische Galerie Lenbachhaus in München, aber auch private Firmen. Von Annett wollten wir unter anderem erfahren, ob Barrierefreiheit ein Kostenfaktor ist.

Was kostet eine barrierefreie Webseite im Vergleich zu einer, die nicht auf Barrierefreiheit ausgelegt ist? Gibt es da spürbare Mehrkosten?

Annett Farnetani: Verschiedene Dienstleistende werden schon zwei nicht barrierefreie Websites unterschiedlich bepreisen. Daher ist ein Vergleich schwierig. Wenn es um eine einfache barrierefreie Seite mit Standardelementen geht, wird es in der Grundumsetzung keinen großen preislichen Unterschied geben. Jedoch kommen Kosten hinzu – zum Beispiel für Gebärdensprachvideos, Untertitelung von Videos oder die Übersetzung in Leichte Sprache. Bei Seiten, die individuelle Elemente enthalten, etwa spezielle interaktive Karten oder Foren, werden die Kosten für eine barrierefreie Lösung höher sein als für eine nicht-barrierefreie Lösung. Das gilt immer dann, wenn es keine barrierefreie Vorlage gibt, mit der man arbeiten kann.

Barrierefreie Websites bringen aber auch finanzielle Vorteile. Gut umgesetzte barrierefreie Produkte sind robuster und besser getestet. Es können sich auch Supportkosten verringern, da die Menschen selbstständiger mit dem Produkt agieren und weniger Unterstützung brauchen.

Grundsätzlich spricht nichts dagegen, eine Website barrierefrei zu machen. Wäre Barrierefreiheit der Standard und Teil jeder Ausbildung sowie jeder Umsetzung, müssten wir nun nicht über unterschiedliche Kosten reden und barrierefrei gegen nicht-barrierefrei abwägen. Sollte es mit Kunden jedoch zu solchen Verhandlungen kommen, besprechen wir gemeinsam, was einen Mehrwert bietet und auf welche kostenintensiven Komponenten verzichtet werden beziehungsweise was daran verändert werden kann.

Hast du auch noch ein paar Tipps für Webseitenbetreiber, die sich vielleicht keine professionelle Unterstützung leisten können. Mit welchen Tools und Methoden kann man seine Seite barrierearm gestalten?

Annett Farnetani: Es gibt sehr viele Informationen im Netz. Eine umfangreiche und strukturierte erste Anlaufstelle ist die Website der Web Accessibility Initiative (WAI) vom World Wide Web Consortium (W3C). Dort findet man nicht nur reichlich Informationen zur digitalen Barrierefreiheit, sondern auch dazu, wie man Schulungen aufbauen kann und auch die Web Content Accessibility Guideline (WCAG) 2.1 in der praktischen Quick Reference.

Hier empfehle ich für den Einstieg insbesondere die Reihe „Tips for Getting Started…“, die sich jeweils an die Redaktion, das Programmier- und Designteam richtet und die wichtigsten Punkte für eine barrierefreie Website zusammenfasst. Außerdem kann man Online-Kurse besuchen und Videos anschauen, eine ausführliche Liste bietet Mike Gifford auf GitHub.

Eine andere Möglichkeit ist es, das Thema explorativ anzugehen, zum Beispiel durch den Newsletter „A11yWeekly“ von David A. Kennedy, der regelmäßig das Thema digitale Barrierefreiheit in das Postfach und damit auf die Agenda bringt.

Meine Empfehlung ist es direkt anzufangen und einen Aspekt auszuwählen, der viel Einfluss hat, zum Beispiel Farbkontraste, Alternativtexte oder valides HTML und das zunächst in den Projekten einzubinden, um sich von dort aus Stück für Stück weiterzuentwickeln.

Und ganz wichtig ist der direkte Austausch mit anderen Personen, zum Beispiel in den örtlichen Accessibility-Gruppen oder auf Barcamps und Konferenzen. Wir haben dafür eine Event-Liste für Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum und Online-Veranstaltungen erstellt.

Wir sprechen für diese Interviewreihe auch mit Mozilla. Daher die Frage: Wirkt sich die Wahl des Browsers auch auf die Barrierefreiheit aus?

Annett Farnetani: Jeder Browser zeigt für dieselbe Website ganz unterschiedliches Verhalten. Das betrifft auch die Barrierefreiheit, insbesondere wenn es zum Zusammenspiel mit den verschiedenen Screenreadern kommt. Da kann die Ausgabe schon sehr variieren und auch nicht gewünschtes Verhalten zeigen. Dabei können wir nicht sagen, dass ein bestimmter Browser besser für die Anzeige einer barrierefreien Website ist als ein anderer.

Wir sehen jedoch, dass Barrierefreiheit ein Thema für die Browserhersteller ist. Verschiedene Entwicklungen der Browserhersteller haben es für uns in der Entwicklung und beim Testen sehr viel einfacher gemacht. Zum Beispiel der Accessibility Inspector von Firefox oder das Audit-Tool Lighthouse von Chrome.

Wir müssen besser werden!

Wir haben es geahnt – und der Austausch mit unseren drei Interviewpartnern hat es bewiesen. In Sachen digitale Barrierefreiheit ist noch viel Luft nach oben. Die gute Nachricht: Wenn man nicht gerade eine ziemlich vielschichte Community-Plattform wie 1E9 betreibt, ist mehr Barrierefreiheit gar nicht so schwierig. Ein Anfang sind hierarchisch angeordneten Überschriften und Bilder, die mit Beschreibungen versehen sind. Natürlich geloben auch wir Besserung! Und hoffen, dass wir auch einige andere Webseitenbetreiber inspirieren konnten…

Titelbild: Symbolbild Brailleschrift, Getty Images

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