Was sagt uns Science Fiction über unsere Welt? Was lernen wir aus den Romanen und Filmen? Ronit Wolf ist Science-Fiction-Expertin, Künstlerin und Veranstalterin des jährlichen Science & Fiction Festival in München. Mit ihr haben wir über diese und weitere Fragen geredet – und uns sagen lassen, was wir als nächstes lesen sollten.
Von Michael Förtsch
Ronit Wolf beschreibt sich als Künstlerin, Kuratorin, Organisatorin – und als „Misfit“. Denn als sie 2010 von London nach München kam, wusste sie nicht so recht, was sie hier eigentlich soll. Also startete sie 2014 das Münchner Science & Fiction Festival und sammelt seitdem, wie @Ronit sagt, „Utopisten, Künstler, Wissenschaftler, Sci-Fi-Fans und Dinge, die ich liebe“. Denn das Festival bietet interaktive Kunstwerke, wortreiche Slams, wissenschaftliche Vorträge und abgefahrene Shows, in denen auch fiktive Charaktere über sich und ihre Welt berichten.
Zur Science Fiction kam die Münchnerin durch ihren Bruder und die Kult-TV-Serie Star Trek: The Next Generation (TNG) , die Ronit als „totale Offenbarung“ beschreibt. „TNG war für mich wie die geilste Band des Weltalls, bei der man unbedingt mitspielen will“, sagt sie. Seit dieser Zeit ist sie von der Science Fiction nicht mehr losgekommen. Dabei geht es ihr nicht nur um faszinierend Welten und Geschichten, sondern auch die Vorbildfunktion, die Science Fiction haben kann. „So gesehen war und ist für mich die Science Fiction ein Möglichkeitsprinzip, aber im Sinn einer Eutopie [eine gute aber umsetzbare Vision Anm.d.Red ]“, so Wolf. „Man kann Dinge besser denken, als wir sie hier gegenwärtig vorfinden.“
Hier nun aber das volle Interview mit ihr.
1E9: Wir befinden uns gerade in einer Zeit der Krisen: der Klimawandel, die Konsumökonomie, das Erstarken der Ultrarechten. Schon immer haben Science-Fiction-Autoren und Autorinnen solche Entwicklungen begleitet. Sei es Kurd Laßwitz mit Auf zwei Planeten , Margaret Atwood mit Der Report der Magd [als Serie The Handmaid’s Tale] , Philip K. Dick mit Das Orakel vom Berge [als Serie: The Man in the High Castle] . Können uns solche Werke helfen, das aktuelle Geschehen besser zu verstehen – oder sogar gegen negative Tendenzen anzukämpfen?
Ronit Wolf: Ja und nein. Vielleicht wenn man irgendwann die Kurve kratzt. Zum Beispiel erinnere ich mich an Arthur C. Clarkes Rama -Zyklus, mit dem vermeintlichen Asteroid, der sich als Raumschiff entpuppt, als eine außerirdische Barke, die zur Erkundung von anderen Spezies im All auch bis zur Erde fliegt.
Im Inneren des fliegenden Steins erschließt sich bald eine riesige Welt und im Laufe der Romane ziehen Menschen dort ein und leben ihr Leben, bekriegen sich, hassen und lieben sich. Und das eigentliche Szenario, dass da mal ein Asteroid war, der die Menschheit besuchte, sowie das Wunder des First Contact ist völlig vergessen; bis die Menschen den Laden stetig runterwirtschaften.
Das muss man ja nicht weiter zerpflücken, um Parallelen zu sehen. Bei jeder Dystopie kommt man an genau diesen Punkt. Sie zeigen uns die geballte menschliche Dumpfbackigkeit nochmals exotisch verpackt als Sci-Fi-Roman mit komischen Namen auf seltsamen Welten. Ok, nochmal in die Wunde bohren – we got it!
Und dann kommen die Zitate wie: „Gute Sci-Fi ist immer ein Spiegel der Gegenwart“. Ja, richtig – und ich frage: Was dann? Haben wir auch Lösungen für danach? Oder stellen wir uns nur kontinuierlich in Frage? Das ist ein bisschen wie bei einer therapeutischen Sitzung nur die Schwächen rauszufuseln, aber nicht an den Stärken zu arbeiten. Vielleicht ist das ein typisch menschlicher Zug, ich glaube George Orwell war es, der mal sagte: Die Menschen fürchten am meisten sich selbst – daher die ganzen Dystopien.
Nachdem ich Dutzende von Dystopien gelesen hatte, führte das bei mir dazu Utopien, oder besser gleich die Eutopien zu suchen.
Das ist gar nicht so einfach. Ein guter Teil der aktuellen Science Fiction ist schließlich ziemlich pessimistisch oder sogar zynisch. Es geht um Apokalypsen, Kriege, Unterdrückung und Überwachung – und das Ende ist oft wenig hoffnungsfroh. Wo sind denn die Utopien geblieben, die es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in großer Masse gab?
Ronit: Viele Utopien waren anfangs auch Tech-Utopien, die meist mit der Entdeckung aktueller Erfindungen in Verbindungen standen. Wenn man sich Werke von Jules Verne ansieht, sind da zum Beispiel die Raketentechnik in Von der Erde zum Mond oder die U-Boote in 20.000 Meilen unter dem Meer. Auch die Geschichten von Edward Page Mitchell haben immens viele Utopien vorweggenommen. Nach der Erfindung des Telefons überlegte er in The Man Without a Body bereits, den Menschen in seine Atome zerlegt zu „telepompieren“. Er erfand also schon in den 1860ern das Beamen.
Interessant ist, dass wir in den Geschichten oft eine ganze Armada an Gadgets einsetzen müssen, um den Menschen eine bessere Zukunft zu prophezeien. Sci-Fi war oft an Technik geknüpft. Liegt es also daran, dass die Technik mittlerweile nicht mehr ganz so glücksverheißend und abenteuerlich ist wie damals – und daher auch die Utopien abnahmen?
Doch wir sollten nicht vergessen, dass wir im ganzen letzten Jahrhundert ganz fantastische Utopisten gehabt haben, zum Beispiel Arthur C. Clarke, Carl Sagan oder Gene Roddenberry. Da wurde Fortschritt auch nicht nur an technische Erfindungen, sondern genauso an die Weiterentwicklung der Menschheit als solches geknüpft. Gerade erleben wir ein Revival solcher Geschichten zumindest im Solarpunk oder Afrofuturism und damit eine Kehrtwende aus unserem Carbon based Century in Richtung alternative Energien. Auch die Gesellschaft ist weitaus interdisziplinärer und selbstverständlich multikultureller aufgestellt. Ich denke, da können wir noch einiges erwarten.
Wäre es in Zeiten von Krisen und Umschwüngen nicht geradezu die Pflicht von Sci-Fi-Schaffern, aktiv positive Zukunftsaussichten zu entwerfen? Solche, die uns helfen, uns eine bessere Welt vorzustellen und diese auch zu gestalten? Zumindest der Solarpunkt, also… , tut ja genau das – mit Ideen über eine grüne, naturverbundene Zukunft der Menschheit.
Ronit: Absolut d’accord! Ich versuche seit 2014 die Leute mit meinem Münchner Science & Fiction Festival aus der Reserve zu locken. Natürlich sehnen sich die Menschen nach neuen Ideen und Perspektiven für sich und die Welt. Mein Grundgedanke bezüglich der Weltverbesserungsmaßnahmen ist, erstmal bei sich selbst zu starten. Im besten Fall wirkt man inspirierend, im schlimmsten Fall zumindest als lieber nicht nachahmenswertes Beispiel. Leider sind wir nicht Captain Picard, der die Welt und das ganze Universum mal eben vor dem alles einnehmenden Nexus rettet.
In meinem Festival arbeite ich stark inklusiv. Es ist ein Science-Fiction-Festival, bei dem jeder mitmachen kann, sofern er sich auf die Bühne traut, oder ausstellen möchte. Dieses Jahr, zum Beispiel, darf jeder in der Show Sci-Fi got Talent zum Besten geben, was er so drauf hat. Egal ob ein Daddy, der die Odyssee auf klingonisch liest, oder einer der mit Robotern tanzt, mit Chatbots diskutiert oder ein Mädel, das auf der Harfe das Star-Wars -Theme spielen kann. Allem gemeinsam ist Vielfalt und eine nicht von Anfang an erhobene Hierarchie. Ich denke, eine gesunde Gesellschaft kann dauerhaft nur durch Vielfalt und Toleranz überleben. Da richte ich mich gerne an die oft zitierte vulkanische Grundphilosophie: Unendliche Vielfältigkeit, unendliche Variationen.
Gerade in München ist es zum Maß der Dinge geworden, sich zu messen. Größer, höher, teurer. Wir hätten sicherlich schon eine weitaus bessere Welt, wenn wir nicht ständig im Vergleich zueinander stünden und uns gegenseitig nicht so viel vormachen würden, wie saugeil wir sind. Und da fangen vielleicht die besseren Welten an.
Ein Indiz dafür, dass sich viele wieder nach einer optimistischeren Science Fiction sehnen, scheint auch das Revival der Ästhetik der Science Fiction der 60er und 70er. Videospiele wie No Man’s Sky orientieren sich an den Buchcovern, die Künstler wie Chris Foss und Jim Burns gezeichnet haben. Ebenso dienen einigen Videospielmachern die Comic-Welten von Jean ‚Moebius‘ Giraud als Vorlage. Sie zeigten den Weltraum als einen Spielplatz, der nur auf seine Erkundung wartet – und nicht als gefährliche Tiefe, in der überall der Tod lauert. Ist das ein positiver Trend – sich wieder an dieser stellenweise naiv verklärten Science Fiction zu orientieren?
Wolf: Ich wäre jetzt so frei eine Gegenfrage zu stellen: Sind die Dystopien im Ganzen nicht genauso naiv, verklärt und kitschig? Ein Indiz von Kitsch ist für mich zum Beispiel das Stilmittel der Wiederholung – und da haben wir ja so einiges in der Dystopie.
Die Regierungen sind totalitär oder degeneriert, Menschen leben in Abhängigkeit und Unterdrückung, Krieg, Zorn, Streit, alles geht glatt den Bach runter und dann so: Ja, das haben wir ja gleich gewusst. Am Besten wir tun gleich nichts. Die übliche Resignation und dann das: Habe ich euch nicht gewarnt? Also, ich finde das auch ganz schön kitschig.
Viele Erfinder und Gründer sagen, dass sie von Science-Fiction-Geschichten inspiriert wurden. Vor allem SpaceX-Gründer Elon Musk geht recht offen damit um – und beruft sich auf die Per-Anhalter-durch-die-Galaxis -Romane von Douglas Adams, den Kultur -Zyklus von Ian Banks und die Foundation -Saga von Isaac Asimov . Was genau hat die Science Fiction bei Leuten wie Elon Musk bewirkt? Was glaubst du?
Ronit: Ich denke, dass hier ein Pioniergeist getragen wird. Sehr klassisch: Ich entdecke Welten, erobere fremdes Terrain, mache Boden und Land sicher für neue Generationen. Sicher ist’s auch der überhöhte Superheldengedanke: Ich kann das alles schaffen – zumindest habe ich das mal in einem Buch gelesen. Ganz stark ist ja dieser Auserlesenheits- oder Erleuchtungsgedanke auch bei Elon Musk. Ähnlich dem American way of life, der eher das Prinzip des sky is the limit protegiert.
Da sehe ich immer die Kinder, die früher mit einem Buch versteckt irgendwo im Garten saßen. Das sind sicherlich auch die Träumer, die irgendwann ihre Ideen in der Praxis testen wollten. Und wie jeder Träumer mal aus seinen Gedanken gerissen wird und handeln muss, sind die Sci-Fi-Stories sicherlich eine großartige Inspiration, um weiterzumachen. Nicht zuletzt wird ja auch im angelsächsischen Raum Sci-Fi als Literature of Ideas bezeichnet, als Literatur der Ideen.
Es ist ja kein Mythos, dass Star Trek viele Wissenschaftler zur NASA brachte, weil sie durch Charaktere wie Spock, Uhura oder Kirk unendlich inspiriert wurden. Das kann ich völlig nachvollziehen, mir ging es auch nicht anders. Naja, bis zur NASA habe ich es aber nicht geschafft.
Auf dem Science & Fiction Festival zeigst du Science Fiction stellenweise von einer ironischen, vor allem aber von einer künstlerischen Seite. Wie kommt diese Verknüpfung zustande? Was haben Science Fiction und Kunst miteinander zu tun?
Ronit: Für mich ist und war Science Fiction immer Kunst und vice versa. Die Frage habe ich mir tatsächlich nie gestellt. Kunst wirkt – im Besten Fall – inspirierend und aufklärend in die Gesellschaft hinein. Sie dient auch als Warnboje, gleich der Science Fiction, und beobachtet positive wie negative Tendenzen. Kunst und Science Fiction kommentieren dies in Bild und Wort oder eben Skulptur oder Media Art oder wie du es eben brauchst…
Vielleicht sollten wir beginnen, weniger Kategorien aufzustellen und gesamt gesehen interdisziplinärer zu arbeiten und zu denken. Auf diese Art zapfen wir den Erfindergeist der Sci-Fi direkt an, denn ihre Welten sind auch unendlich, wie die Darstellungsformen in der Kunst.
Vieles was einst Science Fiction war, ist mittlerweile Realität: Virtual Reality, Augmented Reality, rein digital existierende Welten, Künstliche Intelligenzen. Wie lässt sich das mit Kunst verknüpfen, um Menschen diese Technologien auf eine Weise nahezubringen, die nicht verschreckt? Vor allem KI und Roboter machen vielen Menschen regelrecht Angst.
Ronit: Ich kann das von unserem Festival ableiten. Da versuchen wir, die Menschen spielerisch an neue Technologien heranzuführen, um Berührungsängste abzubauen. Als damals die Spielereien im VR- und AR-Sektor aufkamen, haben wir zum Beispiel Montagsmaler mit Tilt-brush gemacht, einem virtuellen Malprogramm. Wir haben Künstler eingeladen, die sich mit der KI-Programmierung beschäftigen und Musik mit Robotern machen. In Workshops konnten die Leute dann auch lernen, eigene Roboter-Instrumente zu programmieren.
Seit 2015 veranstalte ich für Kinder und Familien den größten Schrott-Roboter-Wettkampf: die Hebocon. Da dürfen Kinder aus Schrott und Haushaltsgegenständen eigenständig kleine Sumo-Wrestling Roboter bauen. Auf einfachem Weg wird hier den Kids Zugang zu niedrigschwelligen Tech-Experimenten gegeben. Wichtig ist der spielerische Ansatz. Es geht nicht ums Gewinnen, sondern ums Spielen, Erfahrungen sammeln und dadurch lernen.
Wie sollte sich die Science Fiction über die kommenden Jahre wandeln, um einen möglichst positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen?
Wolf: Ich fände es überaus spannend und sicherlich gewagt, Spiritualität, Wissenschaft und Kultur mehr zu verquicken. Multidisziplinäre Ansätze, interdisziplinäres Denken, Forschen und Schreiben. Bitte nicht noch mehr Kategorien aufstellen, sondern eher mehrere mutig fusionieren und das Wissen aus Bereichen zu verknüpfen, die eigentlich nicht miteinander reden – oder nur ungern. Da muss ich an ein Interview zwischen dem Dalai Lama und einem Quantenphysiker denken, das im Großen und Ganzen darauf hinaus lief, dass der Wissenschaftler den Lama fragte: Wie kommt ihr nur zu den quantenphysikalischen Ergebnissen ohne die Geräte? Und der Dalai Lama sagte, wie kommt ihr nur zu Euren Ergebnissen ohne Meditation.
Wir haben Ronit noch gebeten, euch noch einige Leseempfehlungen mit zu geben. Hier also drei Romane, in die ihr reinlesen solltet.
Es war die beste Entscheidung, die die Bewohner des Sonnensystems treffen konnten. Sie haben sich entschlossen, das nationale Denken aufzugeben. Seitdem schwebt im All die Actual Sanity, ein in ein Shuttle verbautes Computersystem. Es verteilt Geld und Ressourcen nach Fairness, leitet sie dorthin, wo Infrastruktur in Stand gesetzt und Wohnraum geschaffen werden muss. Es lenkt nicht die Geschicke der Menschen, sondern unterstützt unbemerkt ihre Entwicklung. Die existieren nämlich nun Kollektiven, die um den besten Lebensstil wetteifern. Genau wie Marten Eliot und Emma Glendale, die gerade neue Mitglieder für ihr Kollektiv anwerben wollen. Doch dieses Bemühen kommt ins Stocken, als das friedliche Idyll plötzlich von Anschlägen erschüttert wird.
Der Kultur -Zyklus von Iain Banks ist eines der opulentesten Science-Fiction-Werke. Es besteht aus zehn nur durch die einheitliche Welt verzahnte Bücher. Die Wasserstoffsonate ist der letzte Roman und dreht sich um die Gesellschaft der Gzilt, die sich vorbereitet, von der körperlichen in eine nichtphysische Existenzform überzugehen. Dieser Weg war in einem heiligen Text vorhergesagt worden, dem nun eine Gruppe von Künstlichen Intelligenzen hinterher spürt. Denn es werden Zweifel an dem Text laut, der jedoch in vielen Vorher- und Aussagen vollkommen richtig lag. Das schürt einen Konflikt – denn letztlich geht es um die Wahrheit eines Glauben und die Zukunft einer gesamten Spezies.
Ein Science-Fiction-Roman, eine philosophische Ideen- und Thesensammlung und fiktive Biographie. Odd John: Die Insel der Mutanten von Olaf Stapledon ist damit einiges aber nicht gewöhnlich. Ebenso wie John Wainwright, ein Mutant, der mit überdurchschnittlicher Intelligenz zur Welt kommt. Das macht ihn für seine Mitmenschen so faszinierend wie beängstigend. Denn John realisiert schnell, dass er anders ist und sich unterscheidet. Er sieht gewöhnliche Menschen nicht anders als „die Vögel am Meer“, beginnt mit ihnen seine Spiele zutreiben. Er begreift sich als Übermenschen, der eine Suche nach jenen beginnt, die wie er sein könnten. Odd John erschien bereits 1935 und ist damit gemeinfrei – und kann hier kostenlos geladen werden.