Aus den vielen Artikeln, Fernsehsendungen, Ausstellungen oder Radiodokus, die derzeit an das Münchner Olympia-Attentat erinnern, sticht ein Projekt des Bayerischen Rundfunks hervor – denn es setzt auf Virtual Reality. Einer der Macher berichtet, wie bei der Konzeption der Walk-Through-Documentary vorgegangen wurde.
Von Wolfgang Kerler
Bis zum frühen Morgen des 5. September 1972 lief alles nach Plan. Die Olympischen Spiele in München waren genau die „heiteren Spiele“, die sich die Organisatoren gewünscht hatten: ein buntes, fröhliches Zusammenkommen von Athletinnen und Besuchern, von sportlichen Wettkämpfen und Kultur – und das alles in der spektakulären Architektur des Olympiazentrums.
Doch dann kam es zur Katastrophe. Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September drangen ins Quartier der israelischen Mannschaft ein und nahmen Sportler als Geisel. Die Rettungsaktion der Polizei scheiterte – und elf Athleten aus Israel, ein bayerischer Polizist und fünf Terroristen starben. Was genau damals passierte, ist bis heute nicht vollständig geklärt.
Dieses komplexe historische Ereignis, das schon in klassischeren Erzählformen – Artikeln, TV-Dokumentationen, Radio – schwer zu fassen ist, ohne stark zu vereinfachen, hat ein Team des Bayerischen Rundfunks nun als Social-VR-Experience aufbereitet. Eine originalgetreue Reproduktion der Spielstätten oder ein unmittelbares „Miterleben“ der Geiselnahme ist dabei allerdings nicht entstanden.
Freie atmosphärische Interpretationen statt Reproduktionen
„Was wir erzählen wollen, ist die Dramaturgie von den ,heiteren Spielen‘ bis zur Katastrophe“, sagt Matthias Leitner vom Bayerischen Rundfunk im New Realities Podcast von 1E9 und XR HUB Bavaria. Und das als räumliche Walk-Through-Documentary, denn: „Die Olympischen Spiele waren auch als räumliches Erlebnis ausgelegt.“
Die Experience, die den Titel München 72 bekam, besteht aus mehreren Räumen auf der Social-VR-Plattform VRChat. Ausgangspunkt ist eine Umkleidekabine am 26. August 1972. Es folgen Stopps auf der Spitze des Olympiaturms, bei den Sportstätten, in einem Apartment im Olympischen Dorf, auf einer von Fahrzeugen verstopften Straße zum Flugplatz in Fürstenfeldbruck, wo die Geiselnahme blutig endete, an einem Gedenkort sowie in der Abflughalle des Flughafens München-Riem, von dem die Überlebenden der israelischen Mannschaft am 7. September abreisten.
Die Grafik ist eher schlicht gehalten. Die ersten VR-Umgebungen sind in den fröhlichen Farben des offiziellen Designs der Münchner Spiele gestaltet. Die späteren Räume wirken dunkel, die Lichtstimmung wird bedrückend. Die Stationen sind zwar chronologisch angeordnet, innerhalb der einzelnen Welten gibt es aber keine lineare Erzählung. Stattdessen lassen sich überall historische Fotos, Radiomitschnitte und Videos, aber auch markante Objekte und erklärende Texttafeln entdecken. Auch spielerische Elemente – ein Hürdenlauf und Basketball – sind integriert.
„Unsere Welten sind keine Eins-zu-Eins-Reproduktionen der Realität“, sagt Matthias Leitner, „sondern freie atmosphärische Interpretationen.“ Wichtig sei es dem Team gewesen, die damalige Atmosphäre in die VR-Räume zu überführen: die „kollektive positive Erfahrung und die Freizeitpark-ähnliche Anmutung der Spiele bis zum 4. September“, von denen Zeitzeugen immer wieder berichteten, aber auch die Überforderung und das Gefühl, dass gerade etwas Gefährliches passiert, nachdem die Öffentlichkeit von der Geiselnahme erfuhr.
Keine Konkurrenz zu klassischen Medien
Vom Attentat selbst erfahren die Userinnen zwar emotional und berührend, aber eher aus der Distanz. Im Sportler-Apartment flimmern die damaligen Live-Fernsehbilder über den Bildschirm. Hebt man den Telefonhörer ab, erklingt die Stimme eines Reporters, der die Lage schildert. Auf dem Schreibtisch liegen Schwarz-Weiß-Fotos. Im Stau zum Flugplatz Fürstenfeldbruck, der sich wegen der vielen Schaulustigen damals tatsächlich gebildet hat, vermittelt ein Video mit Ton, was sich vor Ort beim katastrophalen Scheitern der Rettungsaktion abspielte. Noch näher ans Geschehen bringt einen die VR-Experience nicht – aus verschiedenen Gründen.
Zum einen habe das BR-Team viel mit Usern getestet, erzählt Matthias Leitner. „Was ist zu viel? Ab wann springen die Leute ab, weil es ihnen zu düster ist, zu direkt?“ Hinzu kam, dass sich gerade für das Geschehen am Flugplatz Zeugenaussagen widersprechen. „Es gibt also nicht dieses eine ganz genau zu rekonstruierende Szenario, wie es abgelaufen ist.“
Noch wichtiger: „Wir wollten uns nicht anmaßen, dass wir in VR erlebbar machen können, wie sich die Opfer gefühlt haben. Das fanden wir nicht adäquat.“ Die Hinterbliebenen, denen das BR-Team schon während der Produktion Einblicke in die VR-Experience gab, waren von der Machart und der Perspektive jedenfalls sehr angetan, sagt Matthias Leitner.
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Jetzt Mitglied werden!Auf der Plattform VRChat, die das BR-Team wegen ihrer Funktionalität, aber auch wegen ihrer Popularität wählte, kann München 72 kostenfrei im Browser am PC oder mit VR-Brille erfahren werden. Außerdem will das Team die Experience auf verschiedenen Festivals vorstellen. Vom 20. bis 22. September gibt es zudem die Chance, sie im Forum der Zukunft des Deutschen Museums in München auszuprobieren.
Als „Konkurrenz“ zu den klassischen Artikeln, TV-Dokus oder Podcasts zum Jahrestag der Geschehnisse will Matthias Leitner das VR-Projekt übrigens nicht verstanden wissen. Es sei eher darum gegangen, neue Möglichkeiten der Wissensvermittlung zu entdecken, die auch im möglichen, zukünftigen Metaversum funktionieren. „Wir wollten herausfinden, was können wir dort für einen Beitrag zur Bildung liefern“, sagt er. Die Prozesse, um ziemlich schnell Social-VR-Erlebnisse umzusetzen, habe man jetzt jedenfalls entwickelt.
Hier kannst du das ganze Gespräch mit Matthias Leitner hören. Abonnieren kannst du den New Realities Podcast von 1E9 und dem XR HUB Bavaria bei Podigee, Spotify, Deezer und bei Apple Music.
Titelbild: Bayerischer Rundfunk
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