Viele Regierungen nutzen die Corona-Pandemie als Gelegenheit, die digitale Überwachung ihrer Bevölkerung weiter auszubauen – und deren Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken. Auch in Deutschland sollen mitten in der Krise neue Überwachungsrechte für Behörden beschlossen werden. Ein besorgniserregender Trend, findet unsere Kolumnistin @Kryptomania, die nicht nur Datenschützerin, sondern auch Science-Fiction-Kennerin ist.
Eine Kolumne von Aleksandra Sowa
„Ich hatte gestern erkältungsähnliche Symptome, bekam einen Covid-Schnelltest. In 15 Minuten hatte ich ein zu 96,5 % genaues (negatives) Ergebnis“, schrieb der auf Sicherheitsthemen spezialisierte US-Journalist Andy Greenberg in einer Twitter-Nachricht am 23. Oktober. Es handelte sich dabei keinesfalls um einen der inzwischen sehr populären – und ebenso ausverkauften – Tests für zuhause, sondern um einen Corona-Test, den der Autor in einer Klinik gemacht hat und dessen Zuverlässigkeit, wie ihm einer der Ärzte versicherte, nur 2,5 Prozent unter der eines PCR-Tests lag, auf dessen Ergebnis er mehrere Tage hätte warten müssen.
„Mir wurde dadurch klar, dass nicht unsere Technik der Grund ist, warum wir Covid 19 nicht kontrollieren können. Es ist unsere Regierung“, konstatierte Greenberg. Manchmal ist das Problem aber auch, wie Regierungen Technik einsetzen, mit der zwar Bewegungen und Aktivitäten überwacht werden können, die uns aber nicht heilen wird. Es handelt sich um Maßnahmen, die aggressiv in die Privatsphäre der Bürger eingreifen und die Bürgerrechte einschränken. „Liberté, Égalité, Charité? – Lieber Abstand halten“ – mit diesem Text warb Berlin für die Einhaltung der Abstandsregeln und Alkoholverbote. Und traf damit den Kern des Problems.
Die US-Organisation Freedom House veröffentlichte kürzlich die Ergebnisse ihrer jährlichen Studie, Freedom on the Net , in der sie den Grad der Internetfreiheit in 65 Nationen weltweit, die circa 87 Prozent aller Internetnutzer beherbergen, untersuchte. Verschiedene Aspekte, wie Überwachung, Zugangsbeschränkungen, Zensur oder Angriffe auf die Rechte der Nutzer, wurden in der Studie analysiert und bewertet. Die Gesamtaussage der diesjährigen Studie gibt Grund zur Besorgnis: In vielen Ländern gab die Corona-Pandemie den Regierungen den Anlass dazu, Onlinezensur und Überwachung noch weiter zu stärken. Gerade undemokratische Regierungen nutzten die Pandemie als Vorwand für die noch stärkere Einschränkung und Missachtung der Rechte und Freiheiten ihrer Bürger.
Am stärksten fiel die Verschlechterung in Myanmar und Kirgisistan aus, gefolgt von Indien, Ecuador und Nigeria. Auch der Durchschnitt aller Rankings verschlechterte sich gegenüber dem Vorjahr: 26 Länder erhielten schlechtere Bewertungen, während nur 22 ihre Ergebnisse verbessern konnten. Die größten Fortschritte machten Sudan und Ukraine. Island führte auch in diesem Jahr mit dem besten Ergebnis die Liste an, an dessen anderen Ende sich China befand, bereits das sechste Mal in Folge. Die USA belegten immerhin einen guten siebten Platz.
Deutschland fährt bei der Internetfreiheit (noch) ein passables Ergebnis ein
Deutschland kam wie im Vorjahr auf achtzig von maximal möglichen hundert Punkten. Kein schlechtes Ergebnis. Abzüge gab es hauptsächlich wegen der zunehmenden Regulierung der Meinungsfreiheit im Internet, insbesondere infolge des NetzDG – auch als „Facebook-Gesetz“ bekannt. Als besorgniserregend sah Freedom House außerdem solche Trends in der Gesetzgebung, die die Überwachungsbefugnisse der Geheimdienste im In- und Ausland sowie der Polizei ausweiten und das Monitoring der Bürger und ihrer Onlineaktivitäten als präventive Maßnahme rechtfertigen. Die Studie umfasste allerdings nur Entwicklungen und die Gesetzgebung zwischen Juni 2019 und Mai 2020, womit etwa die deutsche Corona-Warn-App nicht bei der Untersuchung berücksichtigt wurde. Ebenso wenig floss die Vielzahl verschiedener Apps, Onlineformulare und haptischer Lösungen in das Ergebnis ein, mit denen die Kontaktverfolgung im Gastronomiebereich (verpflichtend) stattfindet und womit praktisch unbeschränkt Daten gesammelt wurden, auf die Polizei und Ordnungsämter auch ohne richterlichen Beschluss zugreifen dürfen.
In der Zwischenzeit wurde und wird auch eine Reihe unbequemer beziehungsweise bisher als nicht oder schwer vermittelbarer Gesetze verabschiedet: von Staatstrojanern und Hintertüren (Backdoors) über Novellierung des NetzDG bis hin zur Einführung einer zentraler Bürger-ID, die es tatsächlich als eine Maßnahme zur Pandemiebekämpfung in das Konjunkturprogramm geschafft hat.
Mehr Überwachung im Windschatten der Pandemie?
Für die letzte Kabinettssitzung in diesem Jahr, die noch im Dezember stattfinden soll, hat die Bundesregierung eine Reihe von Gesetzesentwürfen vorgesehen, bei denen sich auch mittelbar schwer ein Zusammenhang mit der Bekämpfung oder wenigstens Vorsorge der Pandemie erkennen lässt, die sich aber unmittelbar auf die (Internet-)Freiheiten auswirken: das BND-Gesetz, das IT-Sicherheitsgesetz 2.0 (ITSiG 2.0), die neue Strafprozessordnung, die Kennzeichen-Scanner ermöglichen sollte, oder das Telekommunikations-Modernisierungsgesetz und das Telekommunikations-Telemedien-Datenschutz-Gesetz.
„Angesichts vieler neuer Gesetzentwürfe mit massiv erweiterten Eingriffsbefugnissen in Grundrechte für Nachrichtendienste, Verfassungsschutz und Polizei, die aktuell auflegt werden: Habe ich im zeitweiligen Homeoffice irgendeine Flut an Verbrechen und Terroranschlägen verpasst?“, fragte mit Blick auf den Ansturm von Gesetzen, die nicht mal einen entfernten Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung erkennen lassen, in einem Tweet der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Ulrich Kelber.
Man darf gespannt sein, wie viele der achtzig Punkte, die Deutschland in diesem Jahr in der Bewertung durch das Freedom House erhalten hat, im nächsten Sommer noch übrigbleiben.
Digitalisierung schafft keinen Platz
Die Digitalisierung, die nun wegen der Pandemie vielerorts im öffentlichen und privaten Sektor fieberhaft durchgezogen wird, hat an einem analogen Problem nichts geändert: In den Flugzeugen reichen trotz elektronischer Buchungssysteme die Abstände zwischen den Sitzen immer noch kaum aus, um die Beine der Passagiere zu beherbergen. Und die Bahn setzt immer noch auf „Ersatzzüge“ für ausgefallene Verbindungen, wo Passagiere wie sprichwörtliche Sardinen in der Dose zusammengepfercht reisen. Viel zu kleine Klassenzimmer, Vorlesungssäle, Busse und Lokalbahnen des öffentlichen Verkehrs – all das sind Ergebnisse der jahrelangen Privatisierung, Verdichtung und Optimierung unter dem Grundsatz, der Platz dürfe den Anbietern keine Kosten verursachen und müsse Profit generieren. Abstand halten? Der Bürger oder die Bürgerin sollte selbstverantwortlich schauen, wie er/sie das bewerkstelligt, während er/sie in viel zu kleinen, viel zu eng bemessenen Räumen arbeitet, lernt oder reist.
Als das Virus bereits erkennbare Dynamik entwickelte, sparten die Regierungen in den USA und in Europa außerdem immer noch, um den Anstieg der Gesundheitskosten zu dämpfen, unter anderem an den „Investitionen in die elementare Ausstattung zur Seuchenbekämpfung“, kritisierte Robert Boyer in der deutschsprachigen Dezember-Ausgabe des Le Monde diplomatique . In Deutschland sei es den Bürgerinitiativen zu verdanken, kam nicht umhin die Vorsitzende der Partei Die Linke, Katja Kipping, zu bemerken, dass nicht alle Teile des Gesundheitssystems in den letzten Jahren privatisiert wurden. Dabei wurden schon lange vor der Pandemie Stimmen laut, die dafür plädierten, bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens aus dem Diktat der Wirtschaftlichkeit herauszunehmen.
Doch anstatt die Verdichtung in öffentlichen Räumen wie auch an Arbeitsplätzen zu reduzieren und den Menschen sowohl mehr Arbeits- als auch Lebensraum zu geben, führen manche Unternehmen Überwachungsmaßnahmen für ihre Mitarbeiter ein. Der Postkonzern zum Beispiel. „Arbeitskräfte für Arbeits- und Gesundheitsschutz“ sollten als „Corona-Sheriffs die Mitarbeiter überwachen“ und die Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln regelmäßig überprüfen, berichtete Birger Nicolai in der Welt am Sonntag,. „Fasi“ werden die neuen Überwacher von ihren Kollegen im Post-Jargon genannt. Andere Unternehmen haben den Mitarbeitern Kontaktverfolgungs-Apps auf ihren dienstlichen Geräten pflichtinstalliert, vorerst, heißt es, um die Kontakte und Begegnungen in den Büros nachvollziehen zu können.
Das beharrliche Schweigen der Datenschutzverantwortlichen und der Arbeitnehmervertretungen hinsichtlich dieser Maßnahmen lässt vermuten, dass ihre Auswirkungen nachhaltig sein könnten. Nicht nur, weil sich das Ende der Pandemie und somit das Ende des sinnvollen Einsatzes dieser Maßnahmen nicht einfach so feststellen lässt. Der Anfang einer potenziellen weiteren Pandemie ist vorher ebenso wenig abzusehen. Vielerorts geschieht die Einführung der Überwachung sogar mit Unterstützung der Gewerkschaften, wie bei der Deutschen Post. Die Maßnahmen, zitierte Nicolai in der Welt am Sonntag die Spartengewerkschaft DPBKOM, „seien sinnvoll, um die Beschäftigten so gut es gehe zu schützen“.
Stimmen, wie die des ehemaligen Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, Peter Schaar, dass die Forderung, den Datenschutz in Deutschland zur Corona-Bekämpfung „auszusetzen“ nichts anderes sei als „ein Aufruf zum Rechtsbruch“, gehören eher zu einer Minderheit. So werden unter dem Vorwand oder im Windschatten der Pandemiebekämpfung von den Regierungen und Unternehmenskapitänen Hand in Hand Maßnahmen eingeführt, die Arbeits- und Leistungskontrolle ausweiten und Bürgerrechte weiter aushöhlen.
Wovor uns die Science-Fiction warnt
Die Sorge, dass Digitaltechnologien und Entwicklungen, die zwecks Pandemiebekämpfung eingeführt werden, ihre Existenzberechtigung in den postpandemischen Zeiten verteidigen werden, teilen auch Science-Fiction-Autoren.
In der Kurzgeschichte von Marta Sobiecka, Der Lebensalgorithmus ( Algorytm zycia ), wird die postpandemische Gesellschaft beschützt, indem man sie kontrolliert. Die „Fasi“ sind in der Zukunftsvision keine Menschen mehr, sondern viel effizientere Maschinen, die sich in den öffentlichen Lebensräumen (bspw. auf dem Fischmarkt) unter die Menschen mischen und für die Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln sorgen, indem sie sofort eingreifen und Gegenmaßnahmen einleiten, wenn sich mehr als zwei Menschen einander nähern und längere Zeit miteinander unterhalten. Bei diesem System hat nicht nur ein Schnupfen keine Chance, sondern gleich auch jeglicher Versuch von Versammlungen, Zusammenkünften oder etwa Demonstrationen. Jeder, der schon einmal versucht hat, einem Ticketautomaten zu erklären, dass das Restgeld nicht stimmt, weiß, wovon die Rede ist.
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Jetzt Mitglied werden!Digitaltechnologie wird benutzt, um die Überwachung und Arbeitskontrolle zu stärken. Sie ist, so David Runcimann in So endet die Demokratie, „weit davon entfernt, eine schlagkräftige Waffe in den Händen von Freiheitskämpfern zu sein“, stattdessen sei sie zu einem „wesentlichen Instrument geworden, sie im Auge zu behalten“. Es ist nicht so, dass, auch wenn eine Regierung keinen obligatorischen Einsatz von Warn-Apps oder Kontaktverfolgung vorsieht, die Unternehmen ihre Mitarbeiter, Kunden, Zulieferer oder Geschäftspartner nicht dennoch dazu verpflichten dürften, ihre eigenen Kontaktverfolgungstools zu nutzen, um die Beschäftigten, so gut es gehe, zu beschützen und so im Schatten der Pandemie eine großflächige Kontakt- und Leistungskontrolle umzusetzen.
Es dauert eventuell nicht mehr lange, und wir wachen in Cory Doctorows Science-Fiction-Roman Little Brother auf. Falls wir nicht schon mittendrin leben. Eine ähnliche Zukunftsvision wagt übrigens der Volkswirt Robert Boyer in Le Monde diplomatique: „Die Kombination digitaler Technologien mit Fortschritten in der biologischen Forschung bringt eine Überwachungsgesellschaft hervor, in der eine kleine Elite über eine große, aber völlig einflusslose gesellschaftliche Mehrheit herrscht.“ Was beide Autoren ebenfalls gemein haben: die Überzeugung, dass eine solche Gesellschaft am Ende zusammenbrechen und einen Weg für eine neue (bessere) Zukunft eröffnen wird. Was Science-Fiction allerdings der pragmatischen Zukunftsvision eines Wirtschaftswissenschaftlers voraus hat: Sie zeigt uns, dass es nicht von selbst geschieht und dass der Erhalt der Demokratie, wenigstens für einige von uns, harte Arbeit und viel Aufopferung bedeuten wird.
Dr. Aleksandra Sowa gründete und leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst Görtz Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Sie ist zertifizierter Datenschutzauditor und IT-Compliance-Manager. Aleksandra ist Autorin diverser Bücher und Fachpublikationen. Sie war Mitglied des legendären Virtuellen Ortsvereins (VOV) der SPD, ist Mitglied der Grundwertekommission, trat als Sachverständige für IT-Sicherheit im Innenausschuss des Bundestages auf, war u.a. für den Vorstand Datenschutz, Recht und Compliance (DRC) der Deutsche Telekom AG tätig und ist aktuell für eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft als Senior Manager und Prokurist aktiv. Außerdem kennt sie sich bestens mit Science Fiction aus und ist bei Twitter als @Kryptomania84 unterwegs.
Alle Folgen der Kolumne von @Kryptomania findest du hier.