Kunst mit Gehirn-Computer-Schnittstelle und VR: Ein Tanz mit dem eigenen Gehirn

Das Kunstwerk Mind the Brain! vereint zwei Technologien, die sich gerade rasant weiterentwickeln, mit einer ganz neuen Form der Narration. Die Betrachter werden zu Co-Kreatoren, die in Virtual Reality durch das menschliche Gehirn reisen. Was sie dabei erleben, wird durch ihre eigene Gedankenaktivität beeinflusst. Anfang Juli feiert das Kunstwerk Premiere. Wir konnten es schon ausprobieren.

Von Wolfgang Kerler

Die ungewöhnliche Erfahrung beginnt schon, bevor ich die VR-Brille überhaupt aufsetze. Denn zuerst zieht mir Kathrin Brunner von mYndstorm productions vorsichtig eine Elektrodenkappe über den Kopf – ein gummiartiges Netz, an dem knapp zwei Dutzend Sensoren befestigt sind. Diese einfache Gehirn-Computer-Schnittstelle, auch EEG-Haube genannt, soll während der Experience meine Gehirnaktivität messen. Per Elektroenzephalografie, kurz: EEG. Damit das funktioniert, verteilt Kathrin auf der Unterseite der Elektroden eine Salzpaste und drückt diese dann an meine Haare, meine Stirn, meinen Hinterkopf. Die Paste sorgt für eine bessere Leitfähigkeit und damit für ein besseres Signal. Schließlich müssen elektrische Impulse durch die Schädelknochen hindurch registriert werden.

Die Technik tut, was sie soll. Das zeigt ein Blick auf den mit der Kappe verbundenen Laptop. Dort geben diverse Kurvendiagramme Auskunft darüber, was mein Gehirn gerade treibt und welche seiner Areale besonders aktiv sind. Mit geschultem Auge könnte man anhand der gewonnenen Daten zum Beispiel erkennen, ob ich konzentriert oder gestresst bin, ob ich mich auf etwas fokussiere oder schläfrig vor mich hindöse. Auch Krankheiten wie Epilepsie werden in der Medizin per EEG diagnostiziert.

Ein bisschen unheimlich ist das schon, die eigenen Gehirnströme auf einem Monitor zu beobachten. Könnte man daran irgendwelche Geheimnisse über mich erfahren? Doch Kathrin Brunner beruhigt mich: „Wir können und wollen damit keine Gedanken lesen – und in der Experience gibt es keinen direkten Eins-zu-Eins-Zusammenhang zwischen Input aus deinem Gehirn und Output in der VR-Brille. Der Zusammenhang ist spielerisch“, sagt sie. „Es gibt auch kein Ziel. Du kannst also nichts falsch oder richtig machen.“ Jetzt setze ich die VR-Brille auf – und die Reise durch das Gehirn, der Tanz mit meinem Gehirn beginnt.

Blitzende Neuronen und seltsame Formen aus Leuchtpartikeln

Ich gleite sanft durch eine organische, warm beleuchtete Szenerie, deren Formen selbst mir als medizinischem Laien bekannt vorkommen: Sie zeigen das menschliche Gehirn von innen. Die Reise wird begleitet von sphärischen Klängen, was dem Erlebnis einen fast sakralen Charakter verpasst. Ein erster Höhepunkt: der Neuronenwald. Ein gewaltiger dunkler Raum voller Nervenzellen, die mit Synapsen verbunden sind. Immer wieder Blitzen sie auf. Sind das meine Gedanken?

Noch akuter wird die Frage, was hier eigentlich Teil des Skripts ist – falls es das überhaupt gibt – und was ich mit meinen Gehirnströmen auslöse, als ich mich inmitten einer pulsierenden Wolke aus leuchtenden Partikeln wiederfinde. Mal sehe ich nur diffuse Strukturen, manchmal erscheinen konkrete Formen. Ein Embryo, eine Spinne, ein Gesicht. Viel mehr möchte ich über die Inhalte der Experience hier nicht verraten. Wie lange sie am Ende gedauert hat, kann ich nicht sagen. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Sicher weiß ich danach nur, dass ich tiefenentspannt bin.

Die Inspiration für ein Kunstwerk, das eine Gehirn-Computer-Schnittstelle mit Virtual Reality und Sound mischt, lieferte ausgerechnet ein medizinischer Notfall. Vor vier Jahren erlitt der Theater- und Drehbuchautor, Schauspieler und Regisseur Oliver Czeslik einen Schlaganfall. „Ich will nicht sagen, dass der Schlaganfall für mein Leben hilfreich war“, sagt er im Gespräch mit 1E9. „Aber durch diese Dysfunktion meines Gehirns gelangte ich plötzlich in Erlebnisräumen zwischen Fiktion und Realität. Das war schön und beängstigend zugleich. Danach habe ich mich dafür interessiert, wieder dorthin zu kommen – und anderen dorthin zu bringen.“

Über zwei Jahre arbeitete er mit seiner Frau Kathrin Brunner, einer Expertin für digitale Medien, nun an der ungewöhnlichen VR-Experience Mind the Brain! . Unterstützt wurden sie dabei von einem über 20-köpfigen Expertenteam aus Technologie, Wissenschaft und Kunst. Das war nicht nur wegen der Technik nötig, die zum Einsatz kamen: VR und eine Gehirn-Computer-Schnittstelle, mit denen auch für neuartige Videospiele experimentiert wird. Auch das Gehirn selbst sorgte für den Aufwand. Obwohl wir es permanent nutzen, ist längst nicht geklärt, wie es eigentlich funktioniert. Es bleibt ein Mysterium.

Zum Team gehörten Tobias Heiler vom Münchner Neurofeedback-Start-up Brainboost und der Regisseur und Kameramann Fred Kelemen. Das Forschungszentrum Jülich, das im Rahmen des EU-geförderten Human Brain Project das menschliche Gehirn erforscht, unterstützte die Arbeit. Die Finanzierung gelang durch den FFF Bayern. Und auch Unbeteiligte, die im Laufe der zwei Jahre Vorstufen des fertigen Kunstwerks ausprobieren konnten, leisteten durch ihre Erfahrungen einen Beitrag.

Im Theater oder im Film, da gebe es so viele Strukturen, in die sich Erzählungen einfügen müssten, sagt Oliver Czeslik. Die Bühne, die Technik, Schauspieler, Regie, Publikum. „Dabei haben wir doch alles in unserem Gehirn. Unser Gehirn hat Milliarden von neuronalen Verknüpfungsmöglichkeiten, wodurch so viele narrative Wege, poetische Wege möglich sind, die wir normalerweise überhaupt nicht entdecken.“ Mit Mind the Brain! will er sein Publikum zu „Chef-Erzählern“ machen, sagt er.

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Premiere in München

Doch welche Teile meiner Erfahrung habe ich nun eigentlich per Gedankenkraft ausgelöst? Und welche nicht? „Was du jetzt warst und was du nicht warst, das ist gar nicht die entscheidende Frage“, antworte Oliver Czeslik darauf. Es gehe um das Unbewusste. Doch Kathrin Brunner schiebt eine technische Erklärung nach: „Die Häufigkeit der Gedankenblitze im Neuronenwald wird direkt angesteuert aus dem EEG“, sagt sie. „Das heißt, man kann sehr viele hervorrufen, man kann sehr wenige hervorrufen. Und wenn man sie sucht, dann kann man sie gar nicht mehr fassen.“

Das Pulsieren der Leuchtpartikel hänge ebenfalls von der eigenen Gehirnaktivität ab – und, ob man in der Partikelwolke Formen und Figuren klar erkennt oder nicht. „Die Spinne ist ein gutes Beispiel, die verschwindet sehr gerne, wenn man eine starke Reaktion darauf hat.“

Wer die Experience selbst ausprobieren möchte, kann das Anfang Juli im Blitz Club in München tun. Da ist die offizielle Premiere. Einzelne Gäste werden in einer „BlackBox“ verkabelt und mit einer VR-Brille ausgestattet. Die anderen können anhand von Projektionen die Reise durchs Gehirn miterleben. So wird daraus ein kollektives Erlebnis – und ein bisschen auch eine Ode an unser immer noch mysteriöses Organ.

Titelbild: Myndstorm

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