Von Johannes Mairhofer
Schon längst sind wir es gewohnt, digitale Inhalte zu konsumieren und uns via Messenger auszutauschen – ganz egal, wo wir gerade sind. Jüngere Generationen kennen es gar nicht anders. Es ist Normalität geworden. Für die meisten jedenfalls. Doch leider werden heute noch nicht alle mitgenommen. Sowohl technische als auch menschliche und körperliche Gegebenheiten hindern Menschen an ihrer digitalen Teilhabe.
Wer alle mitnehmen will, muss auch an alle denken. Dabei hilft es, die eigenen Schubladen neu zu sortieren. Denn mit dem Begriff der „Diversity“ ist nicht nur die (vermeintlich) kleine Gruppe der Menschen mit Behinderung gemeint. Zu der es ohnehin anzumerken gilt, dass nur etwa fünf Prozent aller Behinderungen von Geburt an bestehen.
Wir werden älter – und damit eingeschränkter
Es gibt darüber hinaus einige weitere Einschränkungen, die bedacht werden sollten – schon deshalb, weil wir alle immer älter werden. Fast jeder wird sich irgendwann mit Themen wie Bewegungseinschränkungen, Augenerkrankungen oder Hörverlust beschäftigen. Eine Aufbereitung der Inhalte für möglichst viele Nutzer auf möglichst vielen Geräten liegt also in unser aller Interesse. Hier einige Beispiele, die das untermauern:
Temporäre körperliche Einschränkungen
Ein gebrochener Arm, eine verstauchte Hand oder eine Sehnenscheidenentzündung schränkt die Bewegungsfähigkeit ein. Smartphone, Tablet oder Maus und Tastatur lassen sich nicht mehr so einfach bedienen. Und – so banal es klingt – auch eine volle Einkaufstüte oder eine Flasche Bier in der Hand behindern uns. Digitale Geräte sollten sich also ohne Einschränkung mit einer Hand, der Stimme oder gar den Augen steuern lassen.
Ortsgebundene Einschränkungen
Deutschland ist in Sachen Bandbreite noch digitales Brachland. Auf dem Land, im Zug oder in der U-Bahn ist die Internetverbindung oft gar nicht oder nur schlecht vorhanden. Das bedeutet, wir können bestimmte Inhalte nicht nutzen. Daneben gibt es oft Situationen, in denen sich Konsumenten bewusst derart beschränken möchten. In öffentlichen Verkehrsmitteln etwa möchten wir Videos, um andere nicht zu stören, durch Untertitel auch ohne Ton verstehen. Inhalte von Bildern wollen wir durch Bildbeschreibungen auch ohne das eigentliche Bild mitbekommen, zum Beispiel weil es gerade nicht geladen werden kann.
Dafür vorsorgen können alle, die Inhalte erstellen, indem sie sich ans „Zwei-Sinne-Prinzip“ halten, demzufolge Inhalte für mindestens zwei Sinne aufbereitet werden. So können diese von viel mehr Menschen konsumiert werden, egal ob die Einschränkung nun bewusst, gewollt oder ungewollt ist.
Technische Einschränkungen
Nicht jeder kann oder will sich regelmäßig neue Geräte leisten und nicht alle älteren Geräte können Inhalte auf die gleiche Art und Weise darstellen. Gerade in den Zeiten des IoT, des Internets der Dinge, überschwemmen außerdem neue Geräte den Markt.
Werden Inhalte von vornherein responsiv gestaltet, steigt die Wahrscheinlichkeit enorm, dass alle sie konsumieren können. Denn responsive Webseiten können auf sehr vielen Geräten angezeigt werden.
Wenn Überschriften darüber hinaus hierarchisch sortiert und auch als Überschriften definiert sind, Text als echter Text und Bilder mit einer Bildbeschreibung hinterlegt sind, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die kommende Smartwatch sowie Alexa oder der Google-Assistent die Inhalte aufbereiten und vorlesen können. Außerdem können Screenreader die Inhalte verarbeiten und so zum Beispiel blinde und sehbehinderte Menschen erreichen.
Diese Firmen setzen auf gelebte Barrierefreiheit
Seit einigen Jahren gehen viele große Firmen hier mit gutem Beispiel voran, wenn es darum geht, digitale Diversität nicht nur in Sonntagsreden zu fordern, sondern auch zu ermöglich. Auch wenn einige das als eine Art Greenwashing kritisieren, setzen die Firmen oft spannende Projekte um, die für eine digitale Barrierefreiheit sorgen. Sie adressieren damit verschiedene Einschränkungen – temporäre genauso wie durch eine Behinderung bedingte. Hier ein paar Beispiele.
Microsoft
In den letzten Jahren hat vor allem Microsoft gewaltige Schritte unternommen. Wie zum Beispiel in diesem FAZ-Artikel zu lesen, hat Firmenchef Satya Nadella selbst einen Sohn mit Behinderung und ist sich der Notwendigkeit digitaler Barrierefreiheit umso bewusster.
Eine der spannendsten Microsoft-Entwicklungen ist die App Seeing AI, die blinden und sehbehinderten Menschen hilft, ihre Umgebung via Smartphone wahrzunehmen. So wird von ihr beispielsweise die Umgebung beschrieben, Geldscheine erkannt oder Texte gescannt und vorgelesen.
Der User Mr. BlindLife hat die App in seinem Youtube Kanal ausführlich getestet und vorgestellt. Hier sieht man sehr gut, welches Potential in der Technologie steckt.
Samsung
Auch Samsung hat sich als großer Konzern und Anbieter für Unterhaltungselektronik mit dem Thema Barrierefreiheit auseinandergesetzt und überlegt, wie man Inhalte für noch mehr Menschen zugänglich machen kann. In den neuen Smart-TVs sind daher allerlei praktische Tools direkt integriert. So können Menüs vergrößert oder komplette Fernseher via Stimme und dem Samsung Assistenten Bixby gesteuert werden. Besonders spannend ist, dass auch bei Höreinschränkungen oder Sehbehinderungen durch technische Features geholfen werden kann.
Hierzu wird, ähnlich wie beim Führerscheintest, eine Analyse durchgeführt, um zu prüfen ob Farbfehlsichtigkeiten vorliegen. Stellt der Test korrigierbare Farbfehlsichtigkeiten fest, werden die Farben des Fernsehers jeweils angepasst. Bei Höreinschränkungen kann ein separates Audiosignal via Kopfhörer ausgegeben werden.
Dennis Winkens hat in seinem Youtube Kanal die neuen Fernseher vorgestellt:
EVE
YouTube bietet beim Upload des Videos an, hörbare Inhalte als Text zu transkribieren. Auf Englisch funktioniert das einigermaßen. Bei deutschen Texten ist diese interessante Funktion derzeit noch nicht ganz ausgereift.
Gleich einen Schritt weiter geht die Firma EVE, die mit ihrem Service Live-Untertitel anbieten. Laut eigener Aussage ist die Technologie ebenfalls noch im BETA Modus, allerdings sehr spannend. So können Podiumsdiskussionen oder Veranstaltungen live mit Untertiteln begleitet werden. Veranstaltungen werden dadurch für mehr Menschen zugänglich und Inhalte für mehr Menschen konsumierbar. EVE arbeitet in der Cloud und lernt durch Anwendung täglich dazu. Steigende Userzahlen machen den Service also immer besser. Auf Wunsch kann der erkannte Text von einem Moderator angepasst und korrigiert werden.
Inclusify
Der gesamten Bandbreite der „Teilhabe durch Digitalisierung“ widmet sich die Firma Inclusify. Neben der Beratung zum Thema digitale Barrierefreiheit bietet sie auch selbst eigene Lösungen an und arbeiten zum Beispiel an einem Sprachassistenten, der sich an die Sprech- und Kommunikationsweise des Individuums einstellen kann. So können auch Menschen mit Sprachbehinderungen digitale Assistenten besser nutzen. Außerdem werden verschiedene Herausforderungen bei der Spracherkennung, wie Dialekte oder „Nuscheln“ und temporäre Einschränkungen wie Zahnspangen oder ganz banal Essen im Mund korrigiert.
Jeder kann einen Beitrag leisten
Digitale Barrierefreiheit bedeutet, Inhalte auf möglichst vielen Geräten in möglichst allen Situationen für möglichst viele Individuen zugänglich und erlebbar zu machen. Große Firmen gehen mit positiven Beispielen voran, im Kleinen können wir aber alle daran mitarbeiten, dieses Ziel zu erreichen.
Mit dem oben erwähnten Zwei-Sinne-Prinzip oder Untertiteln können wir alle unsere Webseiten und Blogs barriereärmer gestalten. In sozialen Medien können Bildbeschreibungen dafür sorgen, Inhalte ohne großen Aufwand mehr Menschen zugänglich zu machen. Darüber hinaus können wir durch die Verwendung einer leichteren Sprache auch mit fachlichen Inhalten mehr Menschen erreichen. Die Möglichkeiten der digitalen Barrierefreiheit sind da, wir sollten nun damit beginnen sie zu nutzen. Gar nicht unbedingt, weil wir müssen, sondern einfach, weil wir es können.
OFFENLEGUNG: Unser Autor Johannes, bei 1E9 als @sennahoj, hat selbst eine Behinderung und befasst sich seit Jahren mit dem Thema der digitalen Barrierefreiheit. Er hat auch schon für Microsoft und Samsung gearbeitet und pflegt zu Inclusify lange und persönliche Kontakte.
Teaser-Bild: Getty Images