Diese japanischen Mangas sollen eine Debatte über Künstliche Intelligenz auslösen

Künstliche Intelligenz weckt Begeisterung, aber auch Ängste. Welchen Einfluss könnte die Technologie auf die Gesellschaft haben? Wie sollten wir sie nutzen und wie nicht? Über solche Fragen sollten nicht nur Fachleute, sondern möglichst viele Menschen diskutieren. Doch wie startet man die Debatten? Das Designteam eines japanischen Technologiekonzerns sagt: mit Mangas.

Von Wolfgang Kerler

Eine mögliche Zukunft. Vielleicht nur ein paar Jahre entfernt. Die meisten Menschen akzeptieren klaglos, dass Künstliche Intelligenz ihren Alltag mitbestimmt. Schließlich macht sie ihn komfortabler. Fast alle geben ihre persönlichen Daten preis, damit KI die Mobilität für alle optimieren, wertvolle Tipps für Freizeit und Beruf geben und sogar politische Entscheidungen unterstützen kann, die der gesamten Gesellschaft zugutekommen sollen.

Wer brav mitmacht, hat nichts zu befürchten. Ganz im Gegenteil. Wer durch sein alltägliches Verhalten viele und gute Daten für das Training der KIs liefert, sammelt Punkte und verdient damit sogar Geld. Schwierigkeiten bekommt nur, wer schlechte Daten beisteuert, die zu Fehlentscheidungen führen. Und natürlich die kleine Gruppe von Menschen, die sich der KI bewusst widersetzen. Sie tragen Kleidung, die KI-Erkennungssysteme austrickst. Auch ihr Logo ist für Maschinen nicht lesbar. Der Name der Widerständler: 4A oder Quad A. Das steht für Adversarial Attackers Against AI.

Wem würdet ihr euch anschließen? Der Mehrheit, die einen persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen in KI sieht? Oder der Minderheit, die nicht zu folgsamen Datenlieferanten für immer umfassendere KI-Systeme werden will, egal wie vorteilhaft diese auch sein mögen?

SciFi-Prototyping, um Geschichten für Mangas zu entwickeln

Dass sich Menschen über solche Fragen Gedanken machen, ist das Ziel von Hirofumi Fukagawa, der das angerissene Szenario entwickelt hat. Er arbeitet als Designer beim japanischen Technologiekonzern Mitsubishi Electric, der in seinen Produkten – von der Klimaanlage bis zum Industrieroboter – zunehmend Künstliche Intelligenz einsetzt. Doch Unternehmen, die KI entwickeln, haben auch eine soziale Verantwortung, meint Hirofumi Fukagawa. Also starteten sein Team und er 2020 das Projekt AI Spec. „Wir sind Designer“, sagt er, „und wir meinen, dass Design die Kraft hat, einen Raum für Debatten zu schaffen.“

Zuerst sei es darum gegangen, innerhalb des Konzerns ein größeres Bewusstsein für die ethischen und gesellschaftlichen Fragen rund um Künstliche Intelligenz zu schaffen. Davon gibt es genug, wie das Team bei seinen Recherchen in Magazinen, Studien und sozialen Netzwerken feststellte. Doch wie erreicht man eine Belegschaft, die gleichermaßen aus Fabrikarbeitern und Ingenieurinnen, Managern und Pressesprecherinnen besteht? Ganz einfach: mit Mangas, also japanischen Comics. „Für die Menschen in Japan sind Mangas sehr vertraut“, sagt Fukagawa. „Also können die Inhalte in dieser Form jeden Mitarbeiter erreichen.“

Methodisch verbanden die Designer zwei Ansätze – den des spekulativen Designs, bei dem es darum geht, vielfältige Zukunftsszenarien zu entwickeln, die neue Perspektiven auf die Gegenwart eröffnen, und den des Art Thinking, wobei durch Medienkunst Fragen zu Innovationen und Zukunftstechnologien entwickelt werden. Was dabei herauskommt, nennen sie SciFi-Prototyping, erklärt Fukagawa.

Manche würden die für die Mangas erdachten Geschichten als harmonisch empfinden, andere würden sich nur ungern in den imaginierten Zukünften wiederfinden. Doch genau darum gehe es, schließlich sollten sich die Leser eigene Gedanken machen. „Wie fühlst du dich angesichts dieser Zukünfte? Welche Fragen stellen sich dir dadurch?“, sagt Fukagawa. „Wir hoffen, dass wir auf diese Weise eine Diskussion starten können.“

Wenn Annotieren von Trainingsdaten zum (riskanten) Beruf wird

Zwei Mangas sind bereits entstanden. Einer trägt den Titel The Wavering of 1:n. Er begleitet eine junge Frau durch die oben beschriebene Zukunft. Zunächst hält sie sich an jede Empfehlung ihres KI-Assistenten und traut sich nicht, eine neue Bluse zu kaufen, die nicht zu 100 Prozent KI-kompatibel ist. Doch dann beginnt sie zu zweifeln.

Im zweiten Manga namens Projected Morality steht die Tätigkeit des Annotierens, also des Labelns und Einordnens von Trainingsdaten für KI, im Mittelpunkt. Denn es ist zum wichtigen Beruf geworden. Doch wer damit Karriere machen will, darf es sich nicht leisten, Bilder oder Videoaufnahmen falsch einzustufen…

Hier könnt ihr beide Geschichten auf Englisch anschauen und lesen – von rechts nach links. Denn die Mangas und die dazugehörigen Diskussionen und Workshops kamen innerhalb des Unternehmens so gut an, dass entschieden wurde, sie zu veröffentlichen. „Wir haben vergangenes Jahr bei einem öffentlichen Ausstellungsprojekt teilgenommen und die Comics dort gezeigt“, erzählt Fukagawa. „Und es kamen nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder. Sie alle lasen die Comics, schrieben ihre Gedanken dazu auf und teilten sie mit uns.“

Das Feedback war umfangreich – und insgesamt bekam das Designteam den Eindruck, dass die Menschen zwar viele Ängste und Hoffnungen mit KI verbanden, aber noch kein tieferes Wissen über die Technologie hatten. „Es ist schwer, KI wirklich zu verstehen,“ meint Fukagawa. „Da waren die Mangas ein guter Auftakt für eine Diskussion.“ Doch für eine gesellschaftliche Debatte über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bräuchten die Leute noch mehr Informationen und vor allem ganz konkrete Beispiele dafür, welchen Einfluss KI haben könnte.

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Das Projekt startete im vergangenen Jahr – bevor der KI-Sprachgenerator ChatGPT das Thema Künstliche Intelligenz in den Mainstream katapultierte und Millionen von Menschen sich intensiver mit der Technologie auseinandersetzten. Natürlich macht sich auch das Team um Hirofumi Fukagawa längst Gedanken über Szenarien, die Programme wie ChatGPT mitdenken, und wie sie in Mangas erzählt werden könnten.

„Die ersten beiden Mangas waren vor ChatGPT fertig“, sagt Fukagawa. „Deshalb stellen sie Welten dar, in denen KI Teil eines großen Systems ist, aber nicht unbedingt sichtbar und direkt zugänglich für die Bevölkerung. ChatGPT hat KI viel greifbarer gemacht, weshalb solche Systeme in den nächsten Iterationen des Projekts auf jeden Fall enthalten sein sollten.“

Titelbild: AI Spec, Mitsubishi Electric

Transparenzhinweis: Wolfgangs Recherche in Japan wurde durch eine Einladung von Mitsubishi Electric ermöglicht. An die Einladung waren keinerlei Auflagen bzgl. unserer Berichterstattung gebunden.

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