Diese Gehirn-Computer-Schnittstelle soll gelähmten Menschen beim Sehen, Gehen und Sprechen helfen


Moderne Kameras, Exoskelette oder Roboter können menschliche Augen oder Arme vielleicht nicht eins zu eins ersetzen. Dennoch könnten blinde oder gelähmte Menschen davon enorm profitieren – wenn sich die Technik besser mit dem Gehirn verbinden ließe. Gehirn-Computer-Schnittstellen könnten das zwar ändern. Doch die Technologie steht noch am Anfang. Allerdings gibt es vielversprechende Fortschritte, zum Beispiel vom texanischen Start-up Paradromics.

Von Wolfgang Kerler

Vielleicht ist Matt Angle zu bescheiden für das Silicon Valley. Dort muss sich der Gründer und Firmenchef des texanischen Start-ups Paradromics manchmal anhören, seine Vorstellungen für den Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen seien etwas langweilig. „Die Leute fänden es spannender, wenn wir Menschen zu superintelligenten Cyborgs machen wollten, die ganz nebenbei Integralrechnungen im Kopf durchführen können“, sagt er im Gespräch mit 1E9. „Aber, ehrlich gesagt, finde ich unsere medizinischen Anwendungen mindestens genauso faszinierend.“

Bei näherer Betrachtung kann man ihm da kaum widersprechen. Denn genau genommen arbeiten Matt und sein Team an etwas, wovon die Menschheit seit Jahrtausenden träumt: Sie wollen Blinde sehen und gelähmte Menschen, denen das nicht mehr möglich ist, gehen und sprechen lassen. „Wir gehen medizinische Probleme an, unter denen die Gesellschaft seit unzähligen Generationen leidet“, sagt er. „Und jetzt sind wir nur noch einen Steinwurf davon entfernt, sie behandeln zu können.“

Um diese medizinischen Wunder zu vollbringen, arbeitet Paradromics an einer eigenen Gehirn-Computer-Schnittstelle – auf Englisch: Brain-Computer-Interface oder BCI –, die entscheidende Nachteile bisheriger Geräte ausräumen will, die vor allem in der Forschung zum Einsatz kamen. Die sind nämlich sperrig, haben eine niedrige Datenrate und sind außerdem nicht allzu langlebig. Doch immerhin haben sie bewiesen, dass BCIs funktionieren und die Kommunikation zwischen dem komplexen Organ und einer Maschine möglich ist. Was bereits ein echter Durchbruch ist, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich Computer und das menschliche Gehirn arbeiten.

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Während Computer Aufgaben lösen, indem sie in hoher Geschwindigkeit viele einfache Berechnungen nacheinander durchführen, werden Daten im Gehirn von vergleichsweise langsamen Neuronen verarbeitet. Allerdings arbeiten dort manchmal Millionen der insgesamt 80 bis 100 Milliarden von Neuronen parallel and einem Gedanken und nicht nacheinander, was in Summe dennoch schnelle Ergebnisse ermöglicht. „Liest man nur ein Neuron aus, würde man nur sehr wenige Informationen aus dem Gehirn erhalten – und das sehr langsam“, sagt Matt. „So als würde man auf ein Telegramm warten.“ Der Schlüssel zum Erfolg liegt also darin, per BCI die Informationen von sehr vielen Neuronen gleichzeitig zu registrieren oder Informationen an diese zu senden. Theoretisch ist das längst bekannt. Die praktische Umsetzung steht aber noch am Anfang.

Roboterarme oder Avatare in Games lassen sich schon per BCI steuern

Mit den Utah Arrays des amerikanischen Unternehmens Blackrock Microsystems, einem der derzeit gängigen BCIs, konnten in den vergangenen Jahren einige „unglaubliche“ Erfolge erzielt werden, wie Matt sagt. Schon 2014 konnte eine querschnittsgelähmte Frau damit einen Roboterarm kontrollieren – per Gedankenkraft. Der gelähmte Gamer und YouTuber Nathan Copeland steuert damit Avatare in Spielen wie Final Fantasy. Er spürt sogar, wenn jemand seinen Roboterarm berührt. Zum Beispiel der ehemalige US-Präsident Barack Obama, den er bei einem Treffen 2016 per Fistbump begrüßte.


Hier spielt Nathan Copeland per BCI Final Fantasy.

Vier der Utah Arrays wurden Nathan Copeland dafür ins Gehirn implantiert. Das sind winzige Silikonplättchen, aus denen jeweils 100 Mikroelektroden wie kleine Stacheln herausragen. Diese registrieren elektrische Signale der Neuronen im Gehirn, also: Gedanken, und leiten sie über Kabel an zwei kleine Boxen, die auf Nathans Schädel montiert sind. Von da gelangen die Signale über weitere Kabel in einen Computer. Der kann sie interpretieren und erkennt, zum Beispiel, wenn Nathan die Roboterhand zur Faust ballen will. Umgekehrt werden Signale zurückgesendet, wenn die Hand berührt wird.

Doch die Implantate haben Nachteile, wie Nathan vergangenes Jahr in einem Interview mit MIT Technology Review klarmachte. Zum einen ist ihre Lebensdauer begrenzt, weshalb sie bald wieder aus seinem Gehirn explantiert werden müssen. Zum anderen sind die Aktionen, die er per Gedankenkraft durchführen kann, begrenzt, da jedes Array nur über 100 Elektroden verfügt – was verglichen mit Tausenden oder gar Millionen von Neuronen, die an einem Gedanken beteiligt sein können, wenig ist. „Grundsätzlich gilt: Hat man mehr Elektroden, kann man auch umso mehr Neuronen auslesen, damit wären wohl anspruchsvollere Aufgaben möglich“, sagte er. „Ich kann nur über meinen rechten Arm und meine rechte Hand nachdenken.“

Aus Forschungsgeräten sollen Medizinprodukte werden

Für genau diese Sorgen möchte Matt Angle die Lösung liefern. Er vergleicht die Entwicklung von BCIs mit der Entwicklung von Modems für den Internetzugang. „Sie sind schließlich Modems fürs Gehirn“, sagt er. Auch die frühen Internet-Modems verfügten nur über eine sehr niedrige Datenrate. Downloads und Uploads dauerten ewig. „Damit konnte man nur einfache Texte austauschen“, sagt Matt. „Doch dann wurden die Bandbreiten größer und plötzlich gab es Bilder auf Webseiten, dann kamen niedrig aufgelöste Videos, dann Webcams und jetzt haben wir Netflix.“

Wenn es gelänge, deutlich mehr Elektroden ins Gehirn zu bringen, könnte sich die Internetrevolution für BCIs wiederholen, meint der Gründer. Dann ließen sich die umfangreichen Datenströme von hochauflösenden Kameras blitzschnell ins Gehirn übertragen und Blinde könnten sehen. Anstelle von nur einem Roboterarm könnten gelähmte Menschen ein ganzes Exoskelett kontrollieren und sich wieder frei und unabhängig bewegen. Mithilfe von Computern könnte Menschen auch wieder flüssig sprechen.

Bei Paradromics, sagt er, bringe man verschiedene Technologien zusammen, die sich in der Forschung bereits bewährt haben, um daraus eine massentaugliche Gehirn-Computer-Schnittstelle zu entwickeln, die Hunderttausenden von Menschen eingesetzt werden könnte. Das Ziel sind BCIs als echte Medizinprodukte, nicht nur als Testgeräte. „Wir bringen ein System heraus, das eine deutlich höhere Datenrate ermöglicht, aus Materialien hergestellt wird, die viel länger im Körper bleiben können, und überhaupt nicht sperrig ist“, verspricht er.

Das BCI seiner Firma soll aus Tausenden von Platin-Iridium-Mikrodrähten bestehen, die fünfmal so dünn sind wie ein menschliches Haar und deren Spitzen im Gehirn neuronale Signale aufnehmen können. Sie laufen in einer Platine zusammen, die im Schädel auf der Oberfläche des Gehirns platziert wird – und nicht größer sein soll als eine Kopfschmerztablette. Bereits dort wird der Datenstrom verarbeitet und in eine Kommunikationseinheit geleitet, die im Brustkorb implantiert wird. Von dort verläuft ein Kabel nach außen zu einem Computer.

Noch existiert davon nur ein Prototyp, doch Paradromics kann bereits erste Erfolge vorweisen. Gerade ist es dem Start-up nach eigenen Angaben die bisher umfangreichste elektrische Messung von Gehirnaktivitäten gelungen. Mit über 30.000 Elektroden konnte das Entwicklerteam sehr genau verfolgen, mit welcher Gehirnaktivität die Großhirnrinde eines Schafs auf akustische Reize reagiert.

2023 soll der erste Patient das Paradromics-BCI eingesetzt bekommen

In drei Jahren will Paradromics sein BCI zum ersten Mal einem Menschen zu therapeutischen Zwecken einsetzen. Die erste Anwendung soll querschnittsgelähmten Patienten, die weder sprechen noch tippen können, dabei helfen, wieder zu kommunizieren. Danach könnte die Technologie auch eingesetzt werden, um Betroffenen ihre Mobilität zurückzugeben – indem sie in die Lage versetzt werden, Roboterarme, Exoskelette oder Rollstühle zu steuern oder Prothesen zu bedienen.


So erklärt Paradromics seine Technologie.

Was die Zukunft der ganzen Branche angeht, so geht Matt Angle davon aus, dass es bis zur Mitte des Jahrzehnts vor allem Tests und klinische Studien geben wird – und dass es ab dem Ende des Jahrzehnts erste Serienprodukte geben könnte. „In den 2030er Jahren wird sich die Situation dadurch komplett verändert haben“, sagt er. Dann könnten auch blinde oder taube Menschen profitieren, weil sich die Daten von Kameras oder Audiosensoren ins Gehirn übertragen lassen.

Für Matt ist jedoch klar, dass zunächst therapeutische Anwendungen im Mittelpunkt stehen werden. Deswegen will er anders als Elon Musk, dessen Firma Neuralink ebenfalls an BCIs arbeitet, gerade nicht davon sprechen, dass sich mit der Technologie Menschen mit Künstlichen Intelligenzen oder Datenbanken verbinden lassen. „Ich bin kein Befürworter von Gehirn-Computer-Schnittstellen für Menschen, die dafür keinen medizinischen Bedarf haben,“ sagt Matt. „Es ist schließlich eine medizinische Technologie, für die eine Gehirnoperation nötig ist. Und die ist immer auch mit einem Risiko verbunden.“ Wieder einer dieser Sätze, die im Silicon Valley vielleicht etwas langweilig klingen könnten, aber trotzdem überzeugen.

Ihr wollt mehr über die Arbeit von Matt Angle und Paradromics erfahren? Kein Problem, er ist Speaker bei der 1E9-Konferenz am 11. und 12. November, die ihr am besten als 1E9-Mitglied verfolgen könnt.

Titelbild: Getty Images

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Super Thema, @Wolfgang! Erinnert mich an Niels Birbaum, einen der Pioniere in diesem Bereich: In seinem Buch „Dein Gehirn weiß mehr, als Du denkst“ (2014) beschreibt er, wie er mittels einer BCI mit einem Locked-In-Patienten kommuniziert. Dass die Anwendungen über den rein medizinischen Bereich hinaus gehen könnten, deutest Du in Deinem Artikel ja bereits an. Neben Elon Musk arbeitet auch die DARPA an dem Thema. Über die gesellschaftliche und ethische Dimension müssen wir uns frühzeitig klar werden. Besonders groß scheint das politische Interesse im Moment aber noch nicht zu sein. Interessanterweise hat der WBGU (!) in seinem letzten Hauptgutachten (S. 404 f.) aber schon einmal Diskussionsbedarf angemahnt.
@marcowehr

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Auch wenn es zu funktionierenden BCI noch ein weiterer Weg ist: Forscher können heute das Gehirn teilweise schon „auslesen“, indem sie Hirnscans analysieren und KI dafür nutzen. Prof. Simon Eickhoff arbeitet am Forschungszentrum Jülich und der Uni Düsseldorf dazu. Er kommt auch von der medizinischen Anwendung her.

Wir haben in einem gemeinsamen Artikel für die Neue Zürcher Zeitung letztes Jahr mal versucht, das Thema etwas öffentlich bekannter zu machen: https://www.nzz.ch/meinung/die-gedanken-sind-frei-oder-doch-nicht-wenn-kuenstliche-intelligenz-das-hirn-lesen-kann-ld.1484447

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Niels Birbaumer, natürlich, sorry… :grimacing:

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Da bin ich ganz bei dir.

Wobei ich bei den BCIs, wie sie Paradromics entwickelt, insgesamt weniger Bedenken habe als bei den Verfahren zum „Gedanken- bzw. Gehirnlesen“, die auf MRT Aufnahmen beruhen, wie ihr sie in eurem spannenden (und etwas beunruhigendem) Artikel erklärt.

Ein BCI wie von Paradromics, Blackrock Microsystems oder Neuralink erfordert eine Gehirnoperation und ein Implantat. Ohne Einwilligung des Betroffenen wird so etwas - zumindest in Rechtsstaaten - nicht eingesetzt. Noch dazu können BCIs nur die Bereiche des Gehirns auslesen, in die sie implantiert sind. Und da sind meistens bestimmte kognitive Funktionen gebündelt und nicht alle Gedanken „lesbar“.

Trotzdem: Wir sollten natürlich die ethischen Fragen frühzeitig identifzieren und diskutieren.

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Gerade wurde der Jülich-Atlas veröffentlicht, in dem über ein viertel-Jahrhundert Forschung und Datensammeln eingeflossen sind. Er zeigt strukturell unterschiedliche Hirnareale (Cytoarchitektur) und wird offen zur Verfügung gestellt, so dass er erweiterbar ist und neue Bilder, Modelle vom Gehirn etc mit einfließen und den Atlas verbessern können:

Damit kann man in Zukunft vielleicht gezielt bestimmte Areale mit BCIs angehen und wie @Wolfgang schreibt einzelne Funktionen auslesen oder sogar beeinflussen.

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Im medizinischen Bereich wird der Patientenschutz vermutlich immer einen hohen Stellenwert haben, das sehe ich auch so. Das bezieht sich dann vor allem auf die individuelle Ebene. Was ich auch noch als offene Frage im Hinterkopf hatte, waren die gesellschaftlichen Auswirkungen von Human Upgrading – auch außerhalb der medizinischen Anwendung. ZB: Was bedeutet es eigentlich, wenn „alltagstaugliche“ Methoden der Neurostimulation irgendwann einmal die Leistungsfähigkeit zB von Soldaten (= Ziel des DARPA-Projekts), Schülerinnen und Schülern, Beschäftigten in einer Fabrik oder einem Büro tatsächlich signifikant steigern können? – Um welchen Preis tun sie das? Wer bekommt Zugang zu den Technologien (= soziale Frage)? Kann man sich entziehen? …

Eine interessante Frage (für mich als Laien) wäre: Kann man möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt – also zB Jahre nach der Implantation – den bereits „gelegten“ Zugang für andere als die ursprünglich beabsichtigten Zwecke nutzen? Das wäre dann ein bisschen die Analogie zu dem Phänomen, das wir Proliferation des Vorhersageraums genannt haben.

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Sehe dieses Thema der Gehirn-Computer Schnittstelle im positiven Sinne sogar unter dem Aspekt der „Nachhaltigkeit durch Digitalisierung“ im Kontext der „Teilhabe als Basis für gutes Leben“, wie es das WBGU be(sub)titelt (@Thomas)

Deep Brain Stimulation ist schon heute da. Und wer einmal gesehen hat wie ein Parkinsonerkrankter auf einmal wieder in der Lage ist selbstständig sein Leben zu meistern, der hat wahrscheinlich sofort verstanden worum es dabei geht. In erster Linie um Therapein für (neurodegenerative) Krankheiten.

Bald kann man damit Epilsepsie behandeln und vielleicht in wenigen Jahren sogar Alzheimer. Hier (im Rahmen der damit verbundenen Demenz) wird jedoch auch wirklich klar was man evtl mit solchen neuen Schnittstellen leisten kann: Memory Restoration! Und was danach?

Das klingt natürlich ziemlich krass. Es sei jedoch gesagt, dass man auf Basis neurophysiologischer Signale wenig über kognitive Aspekte (Bewusstsein, Gedanken, etc) sagen kann. Wir haben bis dato in keinster Weise ein mechanistisches Verständnis wie man von diesen Signalen auf das was wir im Kopf wahrnehmen kommt. Glaube auch, dass das erstmal so bleiben wird.

Wie leben in einer Dekade in der wahrscheinlich keine technisch-wissenschaftliche Domäne so rasant fortschreitet wie die Neurowissenschaften- und Technik. Würde in erster Linie alles daran setzen die „Kinderkrankeiten“ und Probleme existierender Medizintechnikprodukte zu beheben und diese gesamte Domäne in ein Spiel, das in der Arena der Daten ausgetragen wird, zu hieven.

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