So weiter machen wie bisher, nur ein klein bisschen anders – und dann wird alles gut? Das dürfte schief gehen, meint 1E9-Kolumnist und Zukunftsforscher Daniel Schimmelpfennig alias @CTTF. Inzwischen zweifelt er aber fast schon daran, ob unsere Gehirne überhaupt noch in der Lage sind, alternative Zukünfte zu denken, die uns tatsächlich aus den hausgemachten Krisen befreien könnten.
Kolumne von Daniel Schimmelpfennig
Die Zukünfte kommen nicht durch die Bürotür. Die Mehrdeutigkeit dieser Überschrift bedarf wohl ein paar erklärender Worte. Wo Zukunft drauf steht, ist oftmals keine Zukunft drin. Das ist wohl die unangenehme Wahrheit unserer Zeit voller inflationär gebrauchter Vokabeln und Lippenbekenntnisse. Aber das Geile an dem Satz ist doch auch die Dimensionalität der Bedeutungen, die sich dahinter verbirgt und die man zumindest ansatzweise erahnen kann.
Natürlich werden die Zukünfte nicht durch die Bürotür kommen, weil sich die Zukünfte der intellektuellen und emotionalen Impotenz unserer Zeit verwehren. Vielleicht brauchen wir den demokratisierten Einsatz der Voice of God Technology, damit es irgendwann auch der letzte verstanden hat. Mit ihr wird intensiver Sound hochfokussiert gesendet, so dass dieser als eine brachial-dröhnende Stimme Gottes im Kopf wahrgenommen wird.
Die Message, die dann gesendet werden muss, wäre ziemlich eindeutig: Unsere Ökosysteme kollabieren reihenweise, solange unser gesteigerter Verbrauch begründet durch eine orthodoxe Ideologie den Übergang zu einer astro-bio-digitalen Wertekultur nicht hinbekommt. Wir hängen immer noch auf dem Betriebssystem des industriellen Zeitalters herum – mit einem vorsintflutlichen Ökonomieverständnis, nun auf einer digitalen Infrastruktur wie auf Steroiden virtuell aufgepumpt. Der Verlust der Komplexität der Milliarden Jahre an Permutationen in den Interdependenzen der Systeme, welche wir einfachheitshalber als Natur zusammenfassen, ist trotz der unmittelbaren Gefahr, unsere gesamten Lebensgrundlagen zu verlieren, in unser Verständnis von vermeintlichen Profiten nicht eingerechnet. Ups!
Alternative Zukunftsbilder, divergentes Denken, nicht-parlamentarische Oppositionen, emergente Wissenschaftsverständnisse durch para-akademische Forschungsgruppen, die gegen reduktionistische Empirie neue Erkenntnishorizonte setzen, alles wurde hierzulande in den letzten Jahren mindestens ignoriert, wenn nicht sogar diffamiert oder bekämpft.
Zusammenbruch, Durchbruch und die Gesetze der Physik
Zusammenbruch und Durchbruch sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Paradoxerweise, gleichzeitige, multiple Zeitlinien, verweisen auf Zeit als Chaostheoriesystem nach Edward N. Lorenz. Es ist nicht Chaos als eine Abstinenz von Ordnung, sondern als sehr komplizierte Information. In unserer Analyse heißt das, der politische Zerfall durch Korruption, Dekadenz und Lüge war immer schon ein Merkmal für den sich anbahnenden Kollaps einer Zivilisation, aus deren Asche etwas Neues entstehen musste. Jedoch ist der Unterschied nun – im historischen Vergleich, dass unsere Zivilisation weder regional noch zeitlich in ihrem Zerfall begrenzt ist, sondern dieser eine irreversible Vernichtung zukünftiger Lebens- und Gestaltungsmöglichkeiten bedeutet. Auch wenn parallel bereits andere Zukunftsbilder in der Entstehung sind, so werden auch diese nur an Momentum gewinnen können, wenn eine kritische Masse sich entschieden und gut informiert umorientiert. Also raus aus dem Dasein als Non-Player Character (NPC)!
In Anbetracht der Tatsache, dass sich unsere Sonne in den nächsten paar Milliarden Jahren um ein Vielfaches ausdehnen und unseren Heimatplaneten verschlingen wird, wird das Etablieren von neuem Denken, Sein und Werden sowieso unabdingbar. Die Kardashev-Skala und auch das Kessler-Syndrom zeigen mathematisch, aber auch metaphorisch jeweils auf, dass wir nur ein begrenztes Zeitfenster haben, in dem wir den Übergang zu einer anderen Funktionsweise, Handlungsorientierung, Gesellschaftsordnung, Marktstrategie, Systemdynamik, zu einem anderen Zivilisationsmodell gestalten können, bevor uns der Spielraum drastisch verloren geht.
Die Kardashev-Skala erklärt, um zu einer planetaren Stufe als Zivilisation zu gelangen, benötigen wir einen erfolgreichen Übergang zur nachhaltigen Energiegewinnung. Mit dem Internet haben wir bereits ein planetares Kommunikationssystem. Entweder erreichen wir also auch in Bezug auf unsere Energieproduktion, um unseren planetaren Energiebedarf zu decken, diese wünschenswerte Nachhaltigkeit und werden planetar in jeglicher Hinsicht des Wortes – oder wir löschen uns während dieser Übergangsphase selbst aus. Ähnlich verhält es sich mit dem Kessler-Syndrom, das besagt, dass ab einer gewissen Zunahme des Weltraummülls ein Kaskadeneffekt entsteht, bei dem die immer mehr werdenden Einzelteile die letzten noch funktionierenden Satelliten abschießen werden und in der Gesamtheit zu einem undurchdringbaren Gürtel aus Geschossen heranwachsen. In beiden Fällen ist das Zeitfenster, umzudenken und Veränderungen unserer Praxis voranzutreiben, limitiert.
Profitgierige und Konsumzombies denken vielleicht nicht so weit, aber es ist absolut entscheidend, welche Rolle des Menschseins und welches Bild einer zukünftigen Gesellschaft wir in den nächsten Jahren verkörpern möchten. Fraglich nur, ob wir dafür noch die kognitive Fähigkeit haben.
Kürzlich hat der Theoretische Physiker Lee Smolin in einer Diskussionsrunde seine neueste Hypothese erwähnt: The laws of physics learn how to be the best laws as the universe evolves.
Sein Punkt ist: Wenn wir zugeben können, dass wir Maschinen und Lebewesen beim Lernen beobachten können, das Lernen also tatsächlich existiert, warum sollte das Universum selbst nicht auch lernen können? Smolins Fachkollegin Chiara Marletto komplementiert dieses emergente Verständnis. Ein fundamentaler Aspekt dieses Lernens ist demnach auch das Antizipieren von kontrafaktischen Ereignissen, da kontrafaktische Ereignisse Teil der physikalischen Gesetzgebung zu sein scheinen. Die Möglichkeit für Kontrafaktizität, also gegen die momentane Annahme einer Tatsächlichkeit und Gegebenheit andere setzen, ist damit immer schon mit einprogrammiert. Daraus folgt, dass wir selbst, wenn es um die Gesetze der Physik geht, einkalkulieren müssen, dass die Dinge anders kommen, als sie schon immer kamen – also nicht durch die Bürotür.
Erschöpfte Gehirne setzen auf Vergangenes
Unser Gehirn ist in ständiger Allostase. Wenn wir Erschöpfungssymptome spüren, dann hört unser Gehirn damit auf, Investitionen zu tätigen. Aber was bedeutet das, wenn unser Gehirn aufhört, zu investieren? Es bedeutet, dass es aufhört, zu lernen, und somit nur noch auf altbewährte interne Modelle setzt. Mit anderen Worten: Es setzt auf Vergangenes. Die Energie, die ein Gehirn aufbringen muss, um etwas Neues zu lernen, zum Beispiel, eine neue Zukunft zu begreifen, eine andere zukünftige Welt mit vollständig kollabierten Ökosystemen und ohne funktionierende Atmosphäre oder eine in der die Parameter unseres Optimierungswahns völlig andere sein könnten, verlangt sehr hohe Investitionen von unserem Gehirn.
In dem Artikel A sense of should macht Jordan Theriault, der im Bereich sozialer und kognitiver Neurowissenschaften forscht, darauf aufmerksam, dass unvorhersehbare Umgebungen hohe Stoffwechselkosten verursachen. In sozialen Umgebungen können diese Kosten durch Konformität, also durch die Unterwerfung an Erwartungshaltungen anderer, reduziert werden. Wir richten unser Verhalten also an der Gruppe aus. Als soziale Wesen, deren Gehirne im Angesicht des Verhängnisses und des Untergangs erschöpft sind, eigentlich nur logisch. Dabei hätten wir so viel mehr Potential.
Die Karte ist nicht das Terrain und der Zustand ist die Beziehung zwischen dem Beobachter und dem System.
Alle unsere Fähigkeiten sind auf Prädation und evolutionäre Adaption zurückzuführen. Alles was wir können, jede einzelne Fähigkeit, existiert im Tierreich und wird von irgendeinem anderen Lebewesen – oftmals sogar besser – praktiziert. Viele der Fähigkeiten in der Tier- und Insektenwelt sind sogar weitaus ausgeklügelter und anspruchsvoller als unsere.
Was uns auszeichnet, ist aber die Fähigkeit, viele dieser Fähigkeiten zu vereinen. Was uns außerdem unterscheidet ist genau dieses Wissen über diese Tatsachen und darüber hinaus unsere Eigenschaft, Werkzeuge als Erweiterung unserer Selbst und unserer Art zu kreieren. Dieses vorausahnende Wissen des Designs hilft uns als Fundament, zu antizipieren, welche qualitativen Eigenschaften an Relevanz zu gewinnen scheinen, um den Unterschied in den Zukünften ausmachen zu können. Unabdingbar wird ein tiefgründiges Verständnis für folgende Aussagen sein: Die Karte ist nicht das Terrain und der Zustand ist die Beziehung zwischen dem Beobachter und dem System (the relational interpretation of quantum mechanics).
Die Karte ist nicht das Terrain
Die Art und Weise, wie wir uns evolutionäre, kontrafaktische Zeitstrahlen vor Augen halten können, wie wir lernen, diese für uns zu visualisieren, generiert bereits die neuronale Fluidität in der Konnektivität, die den Unterschied ausmachen wird. Der Neurowissenschaftler David Eagleman nennt diese Plastizität unseres Gehirns livewired.
Mehr noch, wenn wir begreifen, dass die Karte nicht das Terrain ist, können wir endlich Abstand nehmen zu alten Modellen, Theorien, Paradigmen und Gedanken, die uns scheinbar ignorant machen für das, was gerade wirklich vor unseren Augen stattfindet. Wir sagen Natur, wir sagen Baum, wir sagen Ozeane, wir sagen Zukunft, wir sagen vieles und glauben dann bereits zu wissen, was es ist, nur weil wir das Wort kennen oder weil wir irgendein Szenario in der Schublade liegen haben. Der Begriff, den wir gebrauchen, ist aber nicht das Ding an sich. Und das übersimplifizierte Szenario, was in einer Schublade liegt, ist sowieso ganz bestimmt von vorgestern.
Genauso verhält es sich mit dem Zustand, der die Beziehung zwischen dem Beobachter und dem System ist. Wir scheinen oftmals wenig über die Dinge oder andere Menschen zu wissen, sondern eher über unsere Beziehungen zu den Dingen oder zu anderen Menschen. Diese Beziehungen halten wir dann aber für die Dinge oder projizieren unseren Annahmen auf andere Menschen und stecken diese in Schubladen unseres Denkens. Die Labels, die wir dafür gebrauchen, sehen wir dann synonym als das Ding oder als die Person an.
Nun gut, stellt Euch einfach vor, Ihr genießt es, endlich mal ein ludisches Subjekt in einer Gameworld zu sein, ein Homo Ludens in einem Spiel mit offenem Ende. Ihr verbringt einen ganzen Nachmittag im Blips and Chitz, genau wie Rick & Morty und führt Roy: A Life Well Lived auf nicht vorgesehen Umwege. (Wer wissen will, was es damit auf sich hat, einfach den YouTube-Clip oben anschauen.)
In dieser Spielewelt wird die Welt außerhalb Eurer Subjektivität von der Grafikkarte nicht errechnet. Um effizient die Rechenleistung auf die höchstmögliche Grafikauflösung für reibungslosen Spielfluss zu optimieren, wird immer nur eure nächstliegende Umgebung gerendert. Alles, was darüber hinaus reicht, findet per se nicht statt. Diese virtuelle Welt existiert also nur in der Möglichkeit ihrer Entstehung. Erst, wenn ihr beschließt, euren Charakter über die eigentlichen Grenzen der Gewohnheit hinaus zuführen, ist das also der Moment, in dem die Welt „da draußen“ überhaupt entstehen kann.
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Jetzt Mitglied werden!Das Sichtbarkeitsproblem, welches für einen Performance-Gewinn bei der hochauflösenden Darstellung verantwortlich ist, ist aber nicht nur räumlich zu betrachten, sondern eben auch zeitlich. Raum und Zeit sind ineinandergegriffen. Im Charlie Kaufman Film Ich denke daran, die Dinge zu beenden heißt es noch: „Die Leute betrachten sich gerne als Punkte, die sich durch die Zeit bewegen, aber ich denke, es ist wahrscheinlich das Gegenteil. Wir stehen still und die Zeit vergeht durch uns.”
Ein tiefes, spekulatives Eintauchen in die möglichen Welten von Morgen ist bereits jetzt möglich.
Wenn wir richtig hardcore-philosophisch sein wollten, dann würde uns dieser Satz zu verstehen geben: Unsere Welt ist keine Welt der Objekte, sondern eine Welt der Ereignisse, in der unser episodisches Gedächtnis die Lücken zwischen den Ereignissen mit Fiktionen füllt. Das macht jeder von uns unentwegt. Wenn aber die Fiktionen in die unbekannten Zukünfte streben, ist die Entwicklung unserer Fähigkeit, diese Fähigkeiten zu nutzen, erst am Anfang.
Ein tiefes, spekulatives Eintauchen in die möglichen Welten von Morgen ist bereits jetzt möglich – in kreativen, grenzüberschreitenden Werken. Das neue Buch Project Hail Mary von Andy Weir, dem Autor vom Marsianer, gehört genauso dazu wie die Ridley Scott Produktion Raised by Wolves, oder der kosmische Comic Chronosis vom iranischen Philosophen Negarestani.
Gleichwohl kratzen wir hier nur an der Oberfläche dessen, was möglich ist. Denn jedes System, jede politische Architektur, jede Organisationskultur, jedes Business Model, jegliche Industrie, überhaupt unsere individuelle Biographie, besteht aus einer Masse an nicht hinterfragten Annahmen, die ohne Weiteres offenbart werden können. Infolgedessen sind vollkommene Neuheiten und Alterationen möglich und Disruptioneering sehr wahrscheinlich. Ein neuer Morgen, perfekte Stürme, andere Welten und höhere Bestimmungen machen Lust auf aufregende Zeiten in der Disneyfikation der Disaster Pornos. Damit meine ich die kommerzielle Transformation einer 24-Stunden-Non-Stop-Medien-Schleife, die an eine Disneywelt erinnert, in der den kollabierenden Systemen, selbst noch den pietätlosesten, schrecklichsten oder tragischsten Bildern, kommerziell-verwertbarer Unterhaltungswert eingeflößt wird.
Die Frage für uns lautet nun: Wie können Systeme transkultureller und antizipatorischer Governance gestaltet werden, um Novität und Emergenz zu berücksichtigen und sogar zu begleiten und zu befördern? Tellerrand, Scheuklappen, Schubladen, Bürotüren – bewegen wir uns doch endlich mal auf einer anderen Ebene der Komplexität.
Daniel Schimmelpfennig, bei 1E9 als @CTTF aktiv, ist studierter Futurist und hat eine recht exotische Berufsbezeichnung. Er nennt sich „Curiosity-Driven Futures Power User“. Mit seiner Kolumne will Daniel neues Zukunftsdenken in die Welt bringen – und dazu beitragen, dass positive Visionen auch Realität werden. Außerdem berät er Firmen und Institutionen, er gestaltet Workshops und Keynotes.
Titelbild: Getty Images
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