Die Vergangenheit der Zukunft

Die Gegenwart ist die Zukunft der Vergangenheit, nicht die Vergangenheit der Zukunft.
(Kasimir Malewitsch bzw. Ad Reinhardt)

Wir messen Zeit über die Zunahme von Entropie, “Unordnung”: Eine Kerze brennt ab, in der Standuhr zieht ein Gewicht an den Zahnrädern, während es langsam zu Boden fällt und seine potenzielle Energie “verbraucht” … Wir können Zeitabläufe auf diese Weise messen, da der “zweite Hauptsatz der Thermodynamik” uns die Sicherheit gibt, dass wir damit Rechnen können: Die Entropie nimmt stets zu und unsere Welt wird immer unordentlicher.

Wieso die Vergangenheit der Welt so hoch geordnet war, dass das Universum seit Jahrmilliarden immer unordentlicher werden kann, ohne schon längst den thermischen Gleichgewichtszustand maximaler Entropie erreicht zu haben, ist eine der zentralen Fragen moderner Kosmologie. Jedenfalls kann man in einer lauwarmen Gleichgewichtswelt keine Uhren bauen, wie der Physiker Roger Penrose öfters launisch bemerkt.

Kontingenz bedeutet, dass in jedem Moment sich eine Vielzahl von Dingen ereignen, die auch hätten anders laufen können. Unabhängig davon, ob wir das als Zufall oder Willkür sehen, stellt sich die Welt uns als unberechenbar dar.

Im 19. Jahrhundert wuchs aus Newtons Mechanik vom eisernem Aufeinanderfolgen von Ursache und Wirkung auf der einen Seite und Darwins Entstehung der Arten mit dem erbarmungslosen Überlebenskampf als Treiber der Evolution, eine Philosophie der Notwendigkeit: Die Dinge sind heute so, weil sie so sein müssen. Etwas ist geschehen und alles Weitere folgt logisch zwingend daraus. Die Welt ist berechenbar.

Diese Sicht auf die Welt dreht sich schnell in Teleologie um - die Dinge sind so, weil sie gar nicht anders hätten sein können. Viele Erzählungen und Geschichtsschreibungen folgen diesem Muster: Warum ein Startup erfolgreich ist, kann danach verstanden werden, wenn wir im Detail die Geschichte dieses Startups erzählen, von der Biographie der Gründer bis zu den einzelnen Marketing-Coups. Genauso wird uns die Karriere eines Milliardärs in Silicon Valley als zeitliche Abfolge von Ereignissen erzählt, die sozusagen am Ende dazu führen mussten, dass die Person so überdurchschnittlich reich wurde. Diese Ideologie nennt man auch Historizismus.

Für mich persönlich war diese Logik der Geschichte stets sehr unbefriedigend. Es entspricht ganz und gar nicht meiner eigenen Erfahrung. Im Augenblick kommt mir das Allermeiste in meinem Leben unentschieden und willkürlich vor. Aber im Nachhinein dann, zum Beispiel wenn ich auf Linkedin meine Biographie auf den neusten Stand bringe, scheint mein Leben völlig logisch, eine “runde Biographie”. “Everything is obvious once you know the answer.”

“Die Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. … Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc.” schreibt Karl Marx in der ‘Kritik der politischen Ökonomie’. Evolution bedeutet nach Marx genau nicht, dass der Mensch irgendwie schon im Affen angelegt war - aus unseren Vorfahren hätten sich alle möglichen anderen Lebewesen entwickeln können. Aber da wir sind wer wir geworden sind, können wir gar nicht anders, als im Affen uns selbst zu sehen.

History is contigent. There is no seed of the future in the present.
(Slavoj Žižek)

Am Anfang einer neuen Technologie oder auch einer Starup-Gründung steht die Seed-Phase. Es ist meiner Erfahrung nach vollkommen verkehrt, sich dabei am Erfolg von Vorbildern zu orientieren. Jede Geschichte, von hinten erzählt, lässt den Erfolg aussehen, als sei diese Zukunft in der Vergangenheit absehbar oder wenigstens planbar gewesen. Die Entscheidungen der Gründerpersönlichkeiten erscheinen notwendig und zielführend. In Wahrheit mag aber der Erfolg vielmehr vom Zufall abhängig gewesen sein, als vom Willen der Handelnden. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen werden in der Regel gleich mit unterschlagen, all die Privilegien, die den einen Gründer Helden, die andere Gründerin zum Mittelmaß werden lassen.

… so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit. … Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt.
(Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts)

Die Gegenwart erklärt die Vergangenheit. Die Zukunft ist von heute aus gesehen “weich”, wie Hegel schreibt - nicht alles, aber vieles ist möglich. Meiner Erfahrung nach lernt man wenig durch positive Beispiele. Viel interessanter, als die Frage nach Gemeinsamkeiten, die wir glauben, als Erfolgsfaktoren erkennen zu können, ist wodurch sich Dinge unterscheiden. Das Besondere erzählt die eigentliche Geschichte, eingebettet in die Gesetze und Bedingungen seiner Umwelt, seiner Zeit, die als das Allgemeine den Hintergrund liefert.

Wenn wir Aussagen über die Zukunft machen wollen, müssen wir uns vor dem Hintergrund der Allgemeingültigkeiten genau diese Besonderheiten ausdenken. Ceteris Paribus entwerfen wir eine Welt, in der willkürlich oder zufällig etwas in einer bestimmter Weise geschehen ist. Aus diesem besonderen Ereignis entfalten wir dann die möglichen Szenarien, die Visionen der Zukunft, Wie wir diese Geschichte dann so erzählen, dass andere Leute sie interessant finden oder sogar für glaubwürdig halten, folgt genau dieser umgekehrten Logik wie von Hegel und Marx gefordert. Wir erkennen in der Gegenwart, was wir uns in der Zukunft vorstellen wollen.

Ganz wie Hegel weiter schreibt:

“Hic Rhodus, hic salta.
Hier ist die Rose, hier tanze.”

Bemerkung:

Interessanter Weise wird Hegel von seinen konservativen Kritikern gerne für den Historizismus verantwortlich gemacht. Karl Popper, z.B. in seinem schmalen Text “Das Elend des Historizismus” (sowie in “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde”, seinen voluminösen zwei Bänden, in denen er darlegt, inweiweit Plato und Hegel die Feinde einer liberalen Gesellschaft sind); aber auch Russell. Hegel folgend, fordert auch Marx keineswegs einen logisch notwendigen Ablauf der Geschichte. Das Zitat macht klar, dass auch im historischen Materialismus die Abfolge ökonomischer Entwicklungen erst als gesetzmäßig erscheint, wenn wir aus der Gegenwart rückwärts blicken.

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Super Perspektive die Mut macht, aber auch intellektuell herausfordert. Es ist einfacher „Nachzumachen“ als zu erkennen und Differenzen zu erdenken, zu einem eigenen Weg.

Das ist der eigene Weg und wie können wir ihn nach vorne planen?

Wir erkennen in der Gegenwart, was wir uns in der Zukunft vorstellen wollen

Wollen oder „können“. Die Zukunft vorzustellen ohne Beispiele? Wie kommt das wirklich Neue in einen heutigen Gedanken über die Zukunft und wie entsteht daraus ein „eigener“ , differenzierter Weg?

Die Sinnhaftigkeit des eigenen Weges entsteht dann wahrscheinlich wiederum postum, als Historizismus - erklärend aus einem zukünftigen Standpunkt in die Vergangenheit blickend.

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@jbenno: Das ist ein genialer Ansatz, unsere sog. Zeitlinie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu betrachten. Er beschreibt nicht nur die Umkehrbarkeit der zeitlichen Geschehnisse in entgegengesetzter Folge oder gar in beiden Richtungen, sondern beschreibt, sozusagen zwischen den Zeilen, meine Vorstellung der Gleichzeitigkeit, in welcher Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart sich zugleich ereignen. „Die nach uns kommen waren schon vorher da“ ist eine Aussage, die in mir lange schon herumgeistert.

Ich möchte gern noch etwas erwähnen, dass nicht so exakt zu dem hier von dir Gesprochenen passt, doch in mir folgendes angeregt hat:

Wenn ich einen Menschen erkennen möchte und diese Erkenntnis seiner wahren Natur gerecht werden soll, dann ‚erschaffe‘ ich mir ein Bild von ihm, welches mir sein Antlitz im Augenblick seiner Geburt zeigt. Hernach ‚sehe‘ ich mir seine Erscheinung im Greisenalter an; in der Gegenwart steht er vor mir.
Diese Sichtweise kann ich auf Menschen jeden Alters beziehen - sogar im Blick auf mich selbst!
Die Unordnung hat schon eine überraschende Ordnung …*

Borges hat dieses Prinzip der Rückwärts-Kausalität sehr schön beschrieben:

Im kritischen Vokabular ist das Wort ‘Vorläufer’ unentbehrlich, aber man müsste versuchen, es von jedem polemisierenden Beiklang zu reinigen. Tatsache ist, dass jeder Schriftstelker seine Vorläufer erschafft. Seine Arbeit modifiziert unsere Auffassung der Vergangenheit genauso, wie sie die Zukunft modifiziert.
Borges, Kafka und seine Vorläufer (aus ‘Inquisitionen’)

Wenn ein Autor, Künstler, etc. etwas “epochemachendes” schafft, entsteht dadurch ein ganzer Heiligen-Himmel von “Vorbildern” und “Einflussgebern”, in deren Werken wir dann entsprechend die Spuren aus der Zukunft erkennen.

Bei bahnbrechenden Erfindungen (“Disruption”) ist es selbstverständlich nicht anders. Durch das WWW und den Browser wird das Internet (eine bis dahin obskure, akademische Technologie) nachträglich zu der Erfindung des 20. Jahrhunderts …

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Danke @jbenno für die verschiedenen einleuchtenden Beispiele. Damit werden die Pixel meines Verständnisses für die Vorstellung der Vergangenheit der Zukunft anschaulicher.

Dieser Ansatz lässt sich ebenso auf das Verständnis unseres individuellen Werdens, dem Prozess einer Entwicklung im allgemeinen oder auch auf die Existenz von 1E9 anwenden, wo wir gerade sind, welche Visionen wir haben und das die Antwort in jeder Frage bereits enthalten ist… :slightly_smiling_face: