Das Start-up Village Data Analytics nutzt KI und Satellitendaten, um Strom in entlegene Dörfer zu bringen

Künstliche Intelligenz entdeckt eine neue Welt. Im Fachgebiet „GeoAI“ wird maschinelles Lernen auf Geodaten losgelassen. Damit kann Software, zum Beispiel, herausfinden, wo schon ein Stromnetz existiert und wo nicht. Genau das macht sich das Start-up Village Data Analytics zunutze, um die finanziellen Mittel von Regierungen und Unternehmen in die Dörfer Asiens und Afrikas zu lenken, wo der Ausbau der Stromversorgung besonders dringen ist.

Von Daniel Szöke

Oktober 2012. Tobias Engelmeier ist zu Gast in einem Dorf in Uttar Pradesh, Indien. Tanz, Trommeln und Feuerwerk markieren den Beginn von Dussehra, einem Volksfest vergleichbar dem Erntedankfest. Doch Tobias fällt schnell etwas auf: „Die Feste passen nicht mehr. Das Erntedankfest passt nicht mehr in die Erntezeit. Das Aussaatfest passt auch nicht mehr in die Aussaatzeit. Die Feste bleiben im Kalender stehen, aber die Realität darunter verändert sich.“

Der Klimawandel setzt besonders Dörfern in südlichen Regionen wie Uttar Pradesh zu. Denn die Ernten verschieben sich nicht nur, sie fallen immer häufiger aus. Bewohner ziehen in die ohnehin schon überlasteten Städte, doch auch dort fehlt es an Perspektiven. Umso wichtiger, neue Chancen in ländlichen Regionen zu schaffen. Doch dafür braucht es Infrastruktur, vor allem Strom.

Genau deshalb reiste Tobias Engelmeier damals auch durch die Dörfer Asiens und Afrikas. Mit Stift und Umfragebogen ausgestattet wollten er und sei Team herausfinden, wo und wie man ein Mini-Grid, also ein lokales, unabhängiges kleines Stromnetz bauen sollte, um vom Klimawandel bedrohten Gemeinden bestmöglich zu unterstützen. Doch die Arbeit verlief mühsam: Für die analoge Recherche zum Bau von 40 Mini-Grids in Papua New Guinea, zum Beispiel, brauchte das Team sechs Monate Zeit und 200.000 Euro. Doch selbst nach dieser langen und teuren Recherchephase lagen Tobias nur unstrukturierte Umfragebögen vor.

So kann man diese 40 Dörfer nicht elektrifizieren.
Tobias Engelmeier, VIDA

Genau diese Erfahrung war für Tobias und sein Team ein Aha-Moment: „Wir haben gesagt: So geht es nicht. So kann man diese 40 Dörfer nicht elektrifizieren, geschweige denn die 5.000 anderen Dörfer, die mit Strom versorgt werden müssen.” Er musste sich eingestehen, dass „nicht nur ich, sondern alle Leute, die in meinem Bereich arbeiten – und das sind viele in vielen Ländern – eigentlich nicht wissen, was in diesen Dörfern vonstattengeht, was dort passiert und was dort gebraucht wird“.

In die Energieversorgung von Entwicklungs- und Schwellenländern werden hohe Summen investiert. Zwischen 2016 und 2020 waren es jährlich fast 250 Milliarden US Dollar. Doch ein Großteil der Investitionen basierte bisher auf einer unstrukturierten Analyse von inakkuraten analogen Daten. Die Menschen und Institutionen mit Geld besaßen keinen Überblick davon, wo dicht bevölkerte Dörfer eigentlich liegen und was diese brauchen. Die Folge: Stromnetze wurden nicht da gebaut, wo die Bevölkerung auf sie angewiesen wäre. Es wurden unnötig teure Wege der Vernetzung gewählt. Oder Krankenhäuser oder Schulen wurden beim Bau der Stromleitungen übersehen – und nicht angeschlossen. Die Investitionen konnten so nicht die erhoffte Wirkung entfalten.

GeoAI statt Umfragebögen für bessere Entscheidungen

Als Antwort auf dieses Problem gründete Tobias 2018 ein weiteres Start-up: Village Data Analytics, kurz VIDA, dessen Produkt eine Software ist, die genau die gerade beschriebene Datenlücke schließen soll. Dafür setzt VIDA auf GeoAI, also auf eine Geographical Artificial Intelligence. Das heißt, dass die Softwareentwickler von VIDA Algorithmen aus dem Bereich des maschinellen Lernens nutzen, um damit Satellitenbilder zu analysieren. Die Methodik gewinnt Informationen über Dörfer überall auf der Welt, die für Investoren – Unternehmen, NGOs oder Staaten – eigentlich entscheidend sein sollten: Sind sie schon ans Stromnetz angeschlossen? Wie viele Menschen leben dort? Wie hoch ist ihr Energiebedarf? Inzwischen hat VIDA ungefähr 20.000 Dörfer in 15 Ländern analysiert und arbeitet mit Entscheidungsträgern im Energie- und Infrastrukturbereich, wie zum Beispiel PowerGen, der Weltbank oder USAID, zusammen.

Wie das funktioniert? Der erste Schritt ist die Identifikation der Dörfer, erklärt Philippe Raisin, ein Softwareentwickler von VIDA. Wählt ein Kunde die Region, die ihn interessiert aus, sucht der Algorithmus auf einem Satellitenbild „kleine, dicht besiedelte Dörfer, die sich für Mini-Grids eignen“. Dann ermittelt die Software die Entfernung von vorhandenen Stromnetzen, aber auch Gebäude- und Vegetationsstrukturen – basierend auf Datensätzen, die von einem Menschen verifiziert wurden.

Wichtig ist auch, den möglichen Verlauf des zu bauenden Stromnetzes zu bestimmten. Dafür untersucht die Künstliche Intelligenz Nachtaufnahmen, auf denen Häuser zu sehen sind, in denen Licht brennt – zum Beispiel von Glühbirnen, die ihren Strom beispielsweise von Solarmodulen bekommen. Diese Häuser werden verbunden – und schon existiert ein ungefährer Plan des Stromnetzes. Zuletzt werden Daten von privaten Kunden und öffentlichen Organisationen zu dieser Maske hinzugefügt, um den Strombedarf und die Kapazitäten für Photovoltaik entlang des Stromnetzes sichtbar zu machen und Ausbaukosten vorherzusagen.

Nach der Softwareanalyse präsentiert das User-Interface-Team von VIDA diese Daten dem Kunden leicht verständlich in seinem Browser. Letztendlich benutzt die jeweilige Firma, Organisation oder Regierung die digitale Recherche, um die richtige Investitionsentscheidung zu treffen.

Im besten Falle führt das zu einer vollständigen Elektrifizierung eines ganzen Dorfes in drei Monaten. Verglichen mit einer sechs-monatigen analogen Recherche, ein echter Fortschritt. Doch den braucht es auch, denn das Ziel von VIDA ist ambitioniert: „Wir möchten dazu beitragen, dass alle Dörfer auf der Welt – in denen zwei Milliarden Menschen leben – Zugang zu einer Infrastruktur haben, die es den Menschen ermöglicht, an unserem modernen Leben teilzunehmen”, sagt Tobias Engelmeier. Dass das überhaupt machbar erscheint, hat auch technische Gründe: Fortschritte im Bereich der GeoAI und die immer besserer Verfügbarkeit von Daten.

Zwei ESA-Satelliten machten VIDA überhaupt erst möglich

Der Begriff GeoAI mag relativ unbekannt sein, doch fast alle tragen GeoAI in der Hosentasche – etwa in Form von Google Maps. Im anstehenden „Eco-Friendly Routing“-Update von Google Maps , zum Beispiel, kommt ein Algorithmus zum Einsatz, der Satellitenbilder mit Emissionsdaten kombiniert, um die umweltfreundlichste Route von A nach B zu finden. GeoAI für alle.

In der jetzigen Entwicklung von GeoAI nutzt man für Anwendungen wie diese hauptsächlich Convolutional Neural Networks, kurz: CNN. Doch bevor man mit einem solchen neuronalen Netz Satellitenbilder korrekt analysieren kann, braucht man viele Daten, sehr viele Daten, um die KI zu trainieren. Einerseits hochaufgelöste Satellitenbilder, andererseits von Menschen aufbereitete Datensätze, die auf Bildern, zum Beispiel geographische Strukturen, Flüsse oder Häuser markieren.

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Bis vor wenigen Jahren besaßen vor allem kommerzielle Firmen wie Airbus, Planet oder Maxar Technologies die benötigten Satellitendaten – und wer sie brauchte, musste zahlen. Eine kosteneffiziente Recherche zu datenarmen Regionen und besonders zu datenarmen Dörfern war nahezu unmöglich. Der Wendepunkt kam 2014 als die European Space Agency das Copernicus Projekt startete und im Rahmen dessen 2014 den Satelliten Sentinel-1 und 2017 Sentinel-2 in den Weltraum schoss. Deren Aufnahmen sind qualitativ zwar denen mancher privater Unternehmen unterlegen, dafür stellt die ESA wöchentlich Satellitenbilder frei der Öffentlichkeit zur Verfügung. Vor dem Start der Sentinel-Satelliten hätte es ein Unternehmen wie VIDA gar nicht geben können, erklärt Softwareentwickler Philippe Raisin. Und wenn erst einmal die Satellitenkonstellationen von SpaceX, Amazon & Co. ihre Arbeit aufnehmen, könnte auch im Bereich der kommerziellen Daten ein Wettbewerb entstehen, der zu günstigeren und noch viel detaillierteren Daten führen könnte.

Auch für die zweite Kategorie der Datensätze, die es zum Training von KI braucht, also die von Menschen gelabelte Daten, entwickelt sich eine echte Alternative zum teuren Angebot früherer Zeiten – durch Open-Source-Datensätze, die von Firmen aus dem Bereich GeoAI inzwischen immer häufiger geteilt werden.

Der Erfolg wird auf Satellitenbildern ebenfalls sichtbar

Fast noch mehr als die Fortschritte seiner Software begeistert Philippe Raisin überraschenderweise etwas anderes: Da ständig neue Satellitenaufnahmen zur Verfügung stehen, lassen sich damit auch die Fortschritte messen, die mit der Zeit gemacht werden. Plötzlich entdeckt man auf den Nachtlichtbildern, dass in immer mehr Häusern ein Licht brennt, oder es werden neue Gebäude am Rande eines Dorfes gebaut.

In Zusammenarbeit von KI und einer menschlichen Verifizierung der Analyse lassen sich sogar landwirtschaftliche Charakteristiken ablesen. Ob ein Feld bepflanzt ist oder abgeerntet ist. Damit wird auch die ökonomische Entwicklung eines Dorfes sichtbar – und nicht nur VIDA, sondern auch die Kunden können den Fortschritt ihrer Investitionen mitverfolgen.

Tobias Engelmeier von VIDA bei der 1E9-Konferenz 2021

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Titelbild: Getty Images

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