Es gibt einen neuen Weltlauf ins All! Die USA wollen eine Basis auf dem Mond – ebenso China und die EU. Dafür braucht es gigantische Raketen. Bereits in den 1960ern entwarf ein Forscher eine Mega-Rakete, die mit einem Start ganze Habitate und Raumstationen transportieren sollte. In den Weltraum startete sie aber nie.
Von Michael Förtsch
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben am 30. Mai 2020 das erste Mal seit fast einem Jahrzehnt wieder Menschen vom eigenen Boden und an der Spitze einer US-amerikanischen Rakete ins Weltall gebracht. Seit dem Ende des Space-Shuttle-Programms im Jahr 2011 war die NASA auf Mitfluggelegenheiten in den russischen Sojus-Kapseln angewiesen. Der geglückte Start ist, wie die NASA selbst schreibt, nun der Beginn „einer neuen Ära in der bemannten Weltraumfahrt“, die wieder von wagemutigen Missionen wie dem Mondprogramm Artemis, einer Raumstation im Orbit des Mondes und einer Basis auf dem Mond geprägt sein soll. Dafür kooperiert die NASA mit Unternehmen wie SpaceX und Boeing. Aber sie arbeitet auch an eigener Hardware, die die gigantischen Pläne ermöglichen soll.
Insbesondere werkeln NASA-Ingenieure seit fast neun Jahren am Space Launch System, einer neuen Schwerlastrakete. In ihrer größten Ausbaustufe wird sie über 111 Meter hoch sein und bis zu 130 Tonnen in den Orbit hieven können. Wird sie rechtzeitig fertig, wäre sie die stärkste Rakete im Einsatz. Zumindest bis das Starship samt der Raketenstufe Super Heavy von SpaceX ihr Debüt feiern, die bis zu 150 Tonnen wuchten sollen. Und rückblickend ist die Mondrakete Saturn V bis heute die stärkste und größte jemals gebaute Rakete. Allerdings hatte die NASA einst erwogen, eine Rakete zu konstruieren, die das SLS, das Starship, die Saturn V und auch alle anderen derzeit geplanten Schwerlastraketen in den Schatten gestellt hätte: die Sea Dragon, die während des Wettlaufs ins All mit der Sowjetunion von einem Raketenpionier geplant wurde.
Warum so groß?
Seit Mitte der 1950er Jahre folgte für die Vereinigten Staaten ein Schock auf den nächsten. Im Mai 1957 startete die Sowjetunion mit der R-7 die erste interkontinentale Rakete. Im Oktober des selben Jahres startete eine ebensolche Rakete ins All. An Bord: kein Sprengkopf, sondern etwas mit Symbolkraft. Die Rakete setzte den ersten künstlichen Satelliten aus, den Sputnik 1, dessen Piep-Piep weltweit zu empfangen war. Es war der Beweis, dass die sowjetischen Raketen nun jeden Punkt der Erde und das All erreichen können. Aber vor allem war es für die USA das Warnzeichen, dass die Vereinigten Staaten ihre technische Überlegenheit zu verlierend drohten. Die Folge: Die Gründung der NASA, die dann den ersten US-Satelliten ins All startete und das Project Mercury lostrat, um vor der Sowjetunion einen Menschen in den Erdorbit zu befördern.
Im April 1961 kam jedoch der Moment, der die USA zutiefst erschütterte. Statt eines US-Amerikaners erreichte der Kosmonaut Juri Gagarin in der Raumkapsel Wostok 1 als erster Mensch den Weltraum und umrundete in knapp über 100 Minuten die Erde, um dann wieder sicher zu landen. Es war damit klar, dass die USA im All nicht nur nachziehen müssen, wie bei Sputnik, sondern auftrumpfen müssen. Sei es, indem sie Menschen mit einer Station dauerhaft ins All bringen oder einen Mensch auf den Mond befördern, wie es Präsident John F. Kennedy schließlich in seiner „We choose to go to the moon“-Ansprache am 12. September 1962 der Welt verkündete. Aber dafür, das war sicher, brauchte es starke Raketen.
An solch einer wurde von einem Team um den Raketenbauer Wernher von Braun schon gearbeitet, nämlich einer weiterentwickelten Variante der Saturn-C-Raketen, aus der später die Saturn V werden sollte. Ein Raketenbauer glaubte jedoch, dass derartige Raketen nicht die richtige Wahl wären – vor allem mit Blick auf die Zukunft. Die Vorstellung dieser Zeit: Tausende Menschen würden alsbald im All arbeiten, Raumstationen würden die Erde umkreisen, Rohstoffe auf dem Mond abgeerntet und Basen auf dem Mars errichtet werden. Jener Raketenbauer war Robert Truax – und das war nicht irgendwer. Er war ein ehemaliger Marine-Soldat, der zu dieser Zeit beim renommierten Triebwerkshersteller Aerojet General arbeitete. Schon in seiner Kindheit hatte Truax kleine Raketen gebaut, sich später in der American Rocket Society engagiert und dann an der PGM-17 Thor mitgeforscht, der ersten ballistischen Rakete der US Air Force. Er war damit einer der Vordenker der US-Raketentechnik.
Werde Mitglied von 1E9 – schon ab 3 Euro im Monat!
Als Mitglied unterstützt Du unabhängigen, zukunftsgerichteten Tech-Journalismus, der für und mit einer Community aus Idealisten, Gründerinnen, Nerds, Wissenschaftlerinnen und Kreativen entsteht. Außerdem erhältst Du vollen Zugang zur 1E9-Community, exklusive Newsletter und kannst bei 1E9-Events dabei sein.
Jetzt Mitglied werden!Die Überzeugung von Truax war, dass Raketen wie die spätere Saturn V zwar technische Meisterwerke sind, ihre Komplexität sie aber fehleranfällig, teuer und wenig effizient machen. Außerdem fand er sie zu klein und zu schwach, um die Weltraumfahrt wirklich voranzubringen. Vor allem aber könnten sie nicht wiederverwendet werden: Eine totale Verschwendung! Sein Gegenvorschlag war eben jene Sea-Dragon-Rakete, die, wie er Studie paraphrasiert wurde, „der Weltraumtransportökonomie besser Rechnung tragen“ würde.
Mit einem Start sollte sie 500 bis 550 Tonnen Nutzlast in den Weltraum stemmen – also rund das Dreifache von dem, was die Space X für seine größte Rakete plant. Dazu sollte die Sea Dragon einfach genug gestaltet sein, um Fehlschläge wie bei den komplexen NASA-Raketen zu vermeiden, die im Prototypenstadium gerne mal aus zunächst unersichtlichen Gründen explodierten. Und da sich Teile der Rakete wiederverwenden lassen sollten, sollte sie auf viele Jahrzehnte von Nutzen sein. Allem voran jedoch sollte sie den USA einen großen Vorteil beim Rennen ins All bringen.
Einfach mega!
Die Rakete, die Robert Truax in nur einem Jahr konzipiert haben soll, sollte ein echter Gigant werden. Sie sollte zwischen 150 bis 168 Meter in der Höhe messen – und damit fast halb so hoch sein wie der Fernsehturm in Berlin – und rund 23 Meter im Durchmesser. In ihr sollte dadurch genug Platz sein, um gigantische Mengen an Fracht aufzunehmen – seien es Nachschublieferungen für Raumstationen und Mondbasen. Oder sogar eine gesamte Raumstation oder ein Raumschiff, groß genug für eine Reise zum Mars. Gebaut werden sollte die Rakete aus acht Millimeter dicken Stahlwänden und Aluminium. In die Höhe getrieben werden sollte die Sea Dragon von zwei Raketenstufen, die simpel und damit berechenbar konstruiert waren.
Der Tank der ersten Stufe sollte mit dem lange bewährten RP-1 – quasi destilliertem Flugzeugkerosin – und flüssigem Sauerstoff betankt werden. Der Tank der zweiten Stufe sollte mit flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff befüllt werden. Anders als die Raketenbauer der NASA wollte Robert Truax auf teure und fehleranfällige Turbopumpen verzichten. Stattdessen sollte beim Start eine Kammer mit flüssigem Stickstoff geöffnet werden. Der Stickstoff würde sich ausdehnen und der pure Druck die Brennstoffe in die Triebwerke pressen – von denen jede Stufe nur eines hatte, das aber riesig sein sollte.
Das von Truax vorgeschlagene Design, war so wie einfach nur möglich – und ist heute daher als big dumb booster bekannt. Einen solchen Antrieb zu bauen, zu warten und zu testen, ist weder teuer noch für erfahrene Unternehmen sonderlich schwierig. Durch die massiven Tanks und die gigantischen Düsen sollte die erste Stufe der Sea Dragon eine Schubkraft von 360 Millionen Newton und die zweite von 60 Millionen Newton erzeugen. Zum Vergleich: Die Falcon 9, die Ende Mai die Astronauten ins All brachte, entwickelt lediglich sieben Millionen Newton an Schubkraft. Genau dieses kompromisslos gigantische Design und die unbändige Schubkraft hätte aber auch so einige Probleme mit sich gebracht.
Aus dem Wasser in die Luft
Robert Truax war ein Visionär, aber auch ein Pragmatiker. Er machte sich keine Illusionen über die Nachteile, die seine Sea Dragon haben würde. Unter anderem wäre sie so groß gewesen, dass es ein logistischer Albtraum gewesen wäre, die riesigen Hüllenteile, Düsen und Motoren bei den damaligen Fachfabrikanten bauen und über hunderte Kilometer transportieren zu lassen, um sie dann am Startplatz zu montieren. Und das bei jeder Rakete jedes Mal aufs neue. Dazu kam: Es gab nicht mal einen Startplatz, der für die Sea Dragon geeignet gewesen wäre.
Allein der Schub, die Hitze, die Druckwellen und die Flammen der ersten Raketenstufe hätten die Startrampen wie auf der Cape Canaveral Air Force Station in Schutt und Asche gelegt. Dazu hätte die Zündung der ersten Stufe einen Knall ausgelöst, der noch in acht Kilometern Entfernung 165 Dezibel betragen hätte – lauter als ein Panzergeschütz und über der Grenze dessen, was die meisten Schalldruckmesser feststellen können. Dadurch hätte der Start in nahegelegenen Siedlungen für klirrende Fensterscheiben und Hörschaden gesorgt. Die Lösung von Truax: „Die Rakete sollte vertikal treibend direkt aus dem Wasser gestartet werden“, heißt es in der Projektstudie von 1963.
Tatsächlich hatte der Raketenbauer vor, die gesamte Rakete auf das Meer zu transportieren – damit erklärt sich auch der Name der Rakete. Daher kam Truax auch zur Überzeugung, dass die Rakete im Trockendock einer Schiffswerft gefertigt werden könnte. Und laut Anfragen von Aerojet aus dieser Zeit wären die „Antworten [mehrerer Werftbetreiber] uniform positiv gewesen, was die Machbarkeit betrifft“. Denn die Tanks wären wenig anders als eine Schiffs- oder U-Boot-Hülle gewesen. Wenn die Rakete fertig ist, hätte sie mit Schleppbooten beispielsweise in einen Küstenabschnitt vor Cape Canaveral gezogen werden können. Oder mit einem Flugzeugträger hinaus ins offene Meer.
Dort sollte die Sea Dragon ins Wasser getaucht werden. Ein Ballasttank unter dem Triebwerk der ersten Stufe sollte mit Wasser gefüllt werden, um sie gerade zu halten. Dann wäre sie betankt worden und langsam tiefer ins Wasser gesunken. Je nach Ladung hätte ein Drittel der Rakete oder auch nur deren Spitze noch aus dem Ozean geschaut. Laut Truax wäre diese Wasserstartlösung aber nicht nur ein Notbehelf gewesen, sondern hätte auch bemerkenswerte Vorteile gehabt. Beispielweise funktioniert der Druck des Wassers als natürlicher Seitenstabilisator für die Rakete. Der Start wäre dadurch angeblich problemfreier gewesen – und sicherlich weitaus spektakulärer – als der anderer Raketen.
Die erste Raketenstufe hätte die Sea Dragon aus dem Wasser gewuchtet, das den unheimlichen Druck und Klang der Zündung auffangen sollte. Nur knapp über 80 Sekunden hätte die erste Stufe gebrannt und die Rakete auf einem rund eineinhalb Kilometer langen Feuerschwall in rund 40 Kilometer Höhe transportiert. Vier kleinere Steuerdüsen hätten den Koloss während des Auftauchens aus dem Wasser auf die richtige Bahn gebracht. Dann wäre die erste Stufe abgeworfen worden. Die zweite Stufe hätte dann für 260 Sekunden gebrannt und die Rakete bis in 230 Kilometer Höhe befördert. Robert Truax und seine Kollegen glaubten, dass zumindest die erste Raketenstufe – und bei einer Weiterentwicklung auch die zweite – durchaus wiederverwendbar sein könnten.
Entsprechende Verstärkungen für einen Sturz wären bei der Masse der Rakete kaum noch ins Gewicht gefallen. Dazu gab es schon Ideen mit einer Art Überschall-Air-Bag den Sturz Richtung Wasser zu verlangsamen, Schäden durch den Aufprall zu minimieren und ein Absinken auf den Meeresboden zu vermeiden. Dann hätte eine Stufe einfach von einem Schiff geborgen werden können. Statt neue Raketenstufen zu produzieren, hätte die bisherigen einfach aufgearbeitet werden können, was aufgrund der simplen Konstruktion nicht sonderlich teuer gewesen wäre. Nicht viel anders als bei den Raketenstufen von SpaceX’ Flacon 9, die jedoch zudem noch selbst landen können.
Das Rennen war zu früh vorbei
So absurd die Idee für die Sea Dragon auch scheint, sie stieß bei der NASA, obwohl die gerade an der Saturn V fabrizierte, durchaus auf einiges Interesse. Insbesondere bei den Verantwortlichen der sogenannten Future Projects. Das waren diejenigen, die sich bei der US-Raumfahrtbehörde mit dem beschäftigten, was nach der Mondlandung kommen könnte. Eben Träume von Raumstationen, Mond- und Marsbasen – und für die schien die Sea Dragon perfekt, fast zu perfekt. Die Vorschläge, Konzepte und Berechnungen für die Sea Dragon ließ die NASA daher vom einstigen Pioneer-1-Bauer TRW Inc. überprüfen, der ebenfalls überraschend zum Schluss kam: Ja, die Sea Dragon ist machbar und eine prinzipiell plausible Idee.
Eine Weile sah es daher fast so aus, als würde die gigantische Rakete wirklich gebaut werden. Die Firma Aerojet erwog sogar, einen Küstenabschnitt nahe der Vandenberg Air Force Base zu kaufen, um dort zukünftig die Sea Dragon zu starten. Doch dann gelang die Landung auf dem Mond – und die Atmosphäre bei der NASA wandelte sich. Der Wettlauf ins All schien für die Vereinigten Staaten gewonnen. Und statt den nächsten großen Schritt zu tun, den zum Mars oder zur dauerhaften Präsenz auf dem Mond, wurden die Pläne für die Zukunft im All zusammengestrichen – und damit auch das Budget der NASA und deren großen Zukunftsprojekten.
Es gab keine Rechtfertigung und keinen Bedarf dafür, eine Mega-Rakete wie die Sea Dragon zu bauen. Selbst für die Saturn V gab es nach der Mondlandung kaum noch einen Nutzen. Es gab einfach nicht mehr viel Gewichtiges ins All zu hieven. Zumindest nicht in der Geschichte, wie sie in der Realität verlaufen ist. Denn in der Science Fiction lebt die Sea Dragon weiter. In der Apple-TV-Plus-Serie For All Mankind nahm die Historie einen anderen verlauf. Nicht die USA, sondern die Sowjetunion landete den ersten Menschen auf dem Mond, woraufhin der Wettlauf ins All weitergeht und heißer wird. Basen auf dem Mond werden errichtet. Und zum Ende der ersten Staffel wird eine Sea Dragon ins All gefeuert. An Bord eine riesige Erweiterung für die erste US-Mondstation Jamestown.
Teaser-Bild: Apple