Der Nakagin Capsule Tower: Einst war er eine Wohnutopie, heute ist er ein Abrisskandidat

Mitten in Tokio steht ein Gebäude, das wirkt, als stamme es aus einer andere Zeit oder Dimension. Der Nakagin Capsule Tower besteht nämlich aus riesigen Kapseln, die an zwei hohe Türme angedockt sind. Einst war er ein Beispiel für eine neue Art zu bauen. Heute jedoch ist er heruntergekommen und droht abgerissen zu werden. Jedoch gibt es Menschen, die um den Erhalt des futuristischen Architekturreliktes kämpfen.

Von Michael Förtsch

Die japanische Hauptstadt Tokio ist die größte Metropolregion der Welt – und eines der am dichtesten bebauten Areale noch dazu. In der Megastadt drängt sich Hochhaus an Hochhaus. Mancherorts liegen zwischen den Dutzende Meter hohen Wohn- und Geschäftstürmen nur Lücken von wenigen Armlängen. Es sind vielfach uniforme Bauten aus Beton und Glas, die weder auffallen noch im Gedächtnis bleiben. Doch inmitten der Nachbarschaft von Shinbashi im Stadtteil Ginza steht ein Gebäude, das kaum zu übersehen ist. Es liegt nur einige Hundert Meter vom Kaiserlicher Garten der Hama-Residenz entfernt und direkt am geschäftigen Tokyo Expressway, der das Zentrum der Metropole durchschneidet. Der Nakagin Capsule Tower ist ein Gebäude, wie kein anderes. Denn er wirkt, als wäre er direkt aus einer Cyberpunk-Zukunftswelt wie Blade Runner oder Altered Carbon in die Gegenwart transportiert worden.

Der Nakagin Capsule Tower ragt 54 Meter in die Höhe und besteht aus 140 einzelnen Kapseln, die sich über einem zweigeschossigen Sockelbau teils parallel, teils gegeneinander versetzt auf 12 Stockwerke verteilen. Jedes dieser 2,3 Meter hohen, 3,8 Meter breiten und 2,1 Meter langen Module besteht aus robusten Eisenplatten und ist mit einem runden Fenster ausgestattet. Sie geben dem Turm seine markante Waschmaschinen-Optik. Die an zwei zentrale Stahlbetonkerne des Turms angedockten Fächer bieten gerade genug Platz für eine kleine Wohnung mit einem abgetrennten Baderaum, einem fest installierten Schrank mit Kühlfach, ausklappbarem Schreibtisch, einem Bett oder Sofa. Mehr nicht – eigentlich. Denn der eigentümliche Turm wurde seit seiner Fertigstellung im Jahre 1978 nie so genutzt, wie er gedacht war.

Ungenutzte Möglichkeiten

Ersonnen hatte den Capsule Tower der Architekt Kishō Kurokawa für den Immobilienkonzern Nakagin. Kurokawa war einer der Mitbegründer der japanischen Architekturbewegung des Metabolismus. Der Kerngedanke dieser Architekturform ist es, dass Gebäude wie biologische Wesen einen Lebenszyklus und damit verbundene Entwicklungen durchmachen sollten, um sich ihrer Umwelt flexibel anzupassen. Sie sollten über die Möglichkeit verfügen, dass Bestandteile ausgetauscht und durch neue Teile ersetzt werden, wenn es nötig wird. Kontinuierlich sollten Gebäude dadurch im Stande sein, zu wachsen, sich zu wandeln und ihre Funktions- und Nutzungsweise zu ändern.

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Genau diese Vision wollte Kurokawa beim Capsule Tower umsetzen – und tat das auch ohne Kompromisse. Schon, dass er die Gelegenheit dazu bekam, grenzt an ein Wunder. Das Projekt fiel in eben jene Phase der japanischen Wirtschaft, in der Bauunternehmen bereit waren, sich auf solch unkonventionelle Ideen einzulassen. „Der Turm entstand in den 70ern und fiel damit in die Zeit der japanischen Spekulationsblase“, erklärt Shyue Woon im Gespräch mit 1E9. Er arbeitet selbst als Architekt, hat für Architekturbüros wie das von Michael Hopkins und Norman Foster gearbeitet und ist heute an der Planung von Großprojekten beteiligt. Aber ebenso ist er als Fotograf tätig und hat den Capsule Tower für den zweiten Band seiner Fototrilogie Dark Cities abgelichtet.

Zwar wurden auch andere Gebäude umgesetzt, die dem Metabolismus angerechnet werden. Aber die Architekten mussten bei ihnen stets Zugeständnisse machen und Kernideen der Architekturbewegung opfern. „Der Nakagin Capsule Tower ist eines der wenigen Projekte, die dem Metabolismus-Manifest treu sind“, sagt Woon. Denn: Die Module, aus denen er sich zusammensetzt, sind beweglich. Sie könnten nach dem Lösen von Schraubelementen aus Verankerung an den Stahlbetonkernen des Gebäudes gehoben werden. Diese Idee sollte den Wohnungsbau revolutionieren – das war zumindest eine der Hoffnungen von Kurokawa.

Das modulare Design machte es möglich, das ganze Gebäude in nur 30 Tagen hochzuziehen.

Shyue Woon

Einer der Vorteile: „Das modulare Design machte es möglich, das ganze Gebäude in nur 30 Tagen hochzuziehen“, sagt Woon. Der andere: Die Kapseln sollten sich bei Schäden ohne Probleme gegen neue Kapseln austauschen lassen. Aber sie hätten auch versetzt und miteinander kombiniert werden können. Kurokawa glaubte, dass sein Turm wohl zunächst von Menschen genutzt werden würde, die in Tokio arbeiten und nur am Wochenende nach Hause können. Oder von Angestellten und Studenten der nahegelegenen Universität.

Ändere sich das, so der Plan, könnten beispielsweise einzelne Kapseln zu großen Wohnungen gekoppelt werden. Etwa wenn sich in dem Turm zwei Liebende zusammenfinden und eine Familie gründen, die dann mehr Platz braucht. Ebenso sollte es möglich sein, dass mehrere Kapseln umfunktioniert werden, um ein Restaurant oder ein Café einzurichten oder eine Büroetage.

Aber dazu kam es nicht. Denn die Kapseln wurden vom Bauherrn einzeln verkauft und stiegen mit dem immer begrenzter werdenden Wohnraum und den immer neue Rekordhöhen erreichenden Grundstückswerten in Tokio rasant im Preis. Wurde eine Kapsel von Beginn der 1970er- bis zum Anfang der 1980er-Jahre für bis zu 44.000 Euro angeboten, wurde sie zu Beginn der 1990er für bis zu 235.000 Euro gehandelt. Auch heute noch sind fast alle Kapseln im Privatbesitz – und werden, wenn überhaupt, nicht unter 16.000 Euro abgegeben. Dabei sind der Turm und viele der Kapseln heute in einem bemitleidenswerten Zustand.

Ein Relikt aus der Zukunft

Der Architekt Kishō Kurokawa hatten den Nakagin Capsule Tower als ein Gebäude im Sinn, das durch seine tauschbaren Module auf ewig genutzt und bewohnt werden könnte. Über die Jahrzehnte gab es aber kaum Sanierungsanstrengungen. Viele der Module haben durch Regen und Rost große und kleine Schäden davongetragen. Darunter sind vor allem Lecks in den Abdichtungen, die die Kapseln mit den Türmen verbinden. Wasser- und Stromanschlüsse sind vielfach überaltert. Die Abgase der vorbeiziehenden Fahrzeuge haben zudem eine Patina aus Ruß hinterlassen, die die einst schimmernden Kapseln grau färbten und dreckige Schlieren ziehen. Kein einziges der Module wurde jemals ausgetauscht.

Wer, wie Shyue Woon, den Turm im Inneren erkundet, der sieht Kapseln, deren Türen mit Plastikplanen versperrt wurden, Eimer, die Wasser aus tropfenden Rissen auffangen, schimmelnde Gummidichtungen, provisorisch verlegte Leitungen und Betonwände, auf denen sich Kondenswasser sammelt. „Das Innere des Turms riecht muffig, der Rost ist nahezu überall sichtbar“, sagt der Architekt. Den Turm zu betreten, das sei daher wie in ein „alternatives Universum“ zu gelangen, „in dem sich das Alltagsleben mit einer [zerfallenden] Zukunft vermischt“. Auch deshalb habe er den Turm für sein Buch Capsule mit der Kamera einfangen wollen.

Bewohnt ist der Turm trotz seiner zahlreichen Schäden weiterhin. Wenn auch nur von rund einem Dutzend Menschen. Dabei stimmte eine Mehrheit der Eigentümergesellschaft bereits 2007 für einen Abriss. Aber die Immobilienkrise, die im Jahr darauf begann, führte zum Stopp der Pläne. Seitdem hat sich mit dem Nakagin Capsule Tower Preserve and Restoration Project eine Gruppe organisiert, die für die Erhaltung und für die eigentlich unwirtschaftliche Sanierung des Turm einsetzt. Darunter sind sowohl derzeitige Bewohner des Turms, aber auch Architekten, Denkmalschützer und Kunst- und Kulturliebhaber.

Abriss oder Sanierung?

Unter dem Banner des Nakagin Capsule Tower Preserve and Restoration Project und mit Spendenmitteln werden seit wenigen Jahren mehrere Kapseln aufwendig restauriert und wieder bewohnbar gemacht. Einige davon wurden mit einem originalgetreuen Interieur ausgestattet, andere hingegen mit moderner Inneneinrichtung. Manche davon werden dadurch nun wieder dauerhaft bewohnt, andere als Büro vermietet und einige auch über Plattformen wie BukkenFan zu Vermietung angeboten. Rund 30 der 140 Module wären laut Shyue Woon bewohnbar. Auch Führungen durch den Turm werden von Zeit zu Zeit organisiert – bei denen die Teilnehmer die Bewohner kennenlernen und sich über das Leben in dem surrealen Gebäude informieren können.

Das Nakagin Capsule Tower Preserve and Restoration Project hofft, einige der Kapseln an neue und passionierte Besitzer zu bringen und bisherige Eigner davon zu überzeugen, für eine Erhaltung des Turms zu kämpfen. Denn mehr als die Hälfte der Eigentümerstimmen sind notwendig, um für eine komplette Sanierung des Turms und gegen dessen Abriss zustimmen. Auch Bemühungen, den Nakagin Capsule Tower als Kulturerbe und architektonisches Denkmal anerkennen zu lassen, existieren. Dass das gerechtfertigt wäre, davon ist zumindest Shyue Woon überzeugt. Seiner Ansicht nach „war das vollständig aufrüstbare modulare Design seiner Zeit weit voraus“ und sei damit heute bewahrenswert. Bislang aber ist das Schicksal des Nakagin Capsule Tower weiterhin ungewiss.

Update: Im Mai 2021 wurde der Nakagin Capsule Tower verkauft. Der bisherige Eigner überschrieb ihm dem Besitzer des Grundstücks, auf dem der Turm steht. Damit sei ein Abriss in der nahen Zukunft so gut wie sicher, berichten japanische Medien.

Update 2: Wie im Januar 2022 festgelegt wurde, soll der Abriss des Nakagin Capsule Tower im Sommer 2022 beginnen. Zahlreiche der Kapseln sollen jedoch vor der Zerstörung gerettet, an Museen rund um die Welt gespendet oder in autarke Wohnkapseln umgerüstet werden.

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Teaser-Bild: Photo by Daryan Shamkhali on Unsplash

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Danke dafür - eigentlich war er schon immer ein Abrisskandidat, seit ich 2010 das erste Mal da war. Immer wieder freue ich mich, ihn NOCH zu sehen.

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