YouTube hat es geschafft, die Verbreitung von Verschwörungstheorien (mit einigen Ausnahmen) einzudämmen

Auf der Videoplattform YouTube finden sich unzählige Videos, die teils radikale und gefährliche Verschwörungen propagieren. YouTube hatte angekündigt, deren Verbreitung zu begrenzen. Wie eine Studie jetzt zeigt, ist das tatsächlich gelungen. Jedoch lässt die Google-Firma offenbar einige Verschwörungen bewusst zu – beispielsweise solche, die den Klimawandel leugnen.

Von Michael Förtsch

Wer auf YouTube nur schnell ein kurzes Video schauen will, das ihm ein Freund oder eine Freundin empfohlen hat, der kann schnell Stunden auf der Videoplattform verbringen. Denn wenn das eine Video gelaufen ist, lädt durch die Autoplay-Funktion direkt das nächste. Und dann noch ein weiteres. Und so weiter. 70 Prozent der Videoinhalte, die auf YouTube abgespielt werden, sind solche vorgeschlagenen Videos. Welche das sind, das bestimmt ein Algorithmus, dessen Regelwerk geheim ist. Doch dieser Algorithmus hat in der Vergangenheit wohl nicht wenige Menschen in die düsteren Abgründe von YouTube gezogen.

So sammelte Mozilla mit seinem Projekt YouTube Regrets zahlreiche Geschichten von Menschen darüber, was ihnen YouTube so vorsetzte und wie sie damit umgingen. Auf Dokumentationen über Pferde folgten plötzlich Videos, in denen Hengste lautstark Stuten deckten, nach klassischen Volksliedern kam hetzender Nazi-Rock. Aber allem voran: Immer wieder wurden Menschen ohne sichtbaren Zusammenhang abrupt Videos mit Verschwörungstheorien empfohlen und angezeigt.

Das sind mal Videos, in denen Menschen darüber sprechen, dass in geheimen Anlagen Menschen mit Aliens gekreuzt werden. Oder, dass die Erde eine Scheibe sei. Es sind Clips, in denen Angst über vermeintliche Drogen im Trinkwasser, über Gift in Kondensstreifen oder über eine jüdische Weltverschwörung geschürt wird. Und es sind Videos, in denen Greta Thunberg zum Produkt einer Klima- und Umweltindustrie erklärt oder in denen Pläne zum „Austausch“ der europäischen Bevölkerung oder zur „Vernichtung des Deutschtums“ erfunden werden. Das sind nicht nur harmlose Was-wäre-wenn-Gedankenspiele oder skurrile Akte-X -Geschichten, sondern Verschwörungstheorien, die für rassistische Übergriffe und auch für tödliche Terroranschläge wie in Hanau, Halle und Christchurch mitverantwortlich gemacht werden können. Der Attentäter von Hanau hinterließ sogar selbst ein YouTube-Video, in dem er über Untergrundstädte in den USA sprach und zum bewaffneten Widerstand aufrief.

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Daher wurde in der Vergangenheit mehrfach gefordert, dass YouTube in die Mitverantwortung genommen werden – und vor allem handeln – muss. Im Januar letzten Jahres sagte die Videoplattform schließlich zu, entsprechende Schritte zu unternehmen. Zu dieser Zeit sollen, wie Bloomberg berichtete, bereits seit langem mehrere YouTube-Mitarbeiter vergeblich für Änderungen am Empfehlungs-Algorithmus gekämpft haben. „Wir werden damit beginnen, Empfehlungen von grenzwertigen Inhalten und Videos zu reduzieren, die die Nutzer auf schädliche Weise falsch informieren könnten“, verkündete YouTube dann in einer Erklärung. Nach einer aktuellen Studie hat das offenbar Wirkung gezeigt.

Eine Studie hat acht Millionen Videos auf Verschwörungen geprüft

Bereits vor der Ankündigung von YouTube, dass der Algorithmus geändert werden würde, hatte sich ein Team aus Entwicklern und Forschern der UC Berkeley School of Information, der University of California und der Mozilla Foundation zusammengefunden . Sie wollten prüfen, wie weit und häufig YouTube seinen Nutzern problematische Videos vorschlägt – und, nach der Ankündigung, ob die Bemühungen von YouTube, ihre Verbreitung einzuschränken, tatsächlich eine sichtbare Wirkung zeigen. Der Grund für diese Überprüfung? Die Zweifel der Studienautoren an der Plattform basierend auf dem Verhalten, das „YouTube über die vergangenen Jahre“ gezeigt habe. Unterstützt wurde das Team von Guillaume Chaslot, der einst selbst das Vorschlagssystem von YouTube mitentwickelt hat.

Die Forscher trainierten für ihre A longitudinal analysis of YouTube’s promotion ofconspiracy videos getaufte Studie selbst einen Algorithmus, der beurteilen sollte, ob ein vorgeschlagenes Video, eine Verschwörungstheorie präsentiert, oder nicht. Dafür schaute die Software nach Schlagworten im Videotitel, der Beschreibung, dem Transkript (falls vorhanden) und den Kommentaren, die auf Verschwörungstheorien schließen lassen. Insgesamt ließen die Forscher ihr System über einen Zeitraum von 15 Monaten rund acht Millionen Videoempfehlungen analysieren. Dabei konzentrierten sie sich auf den Watch-Next-Algorithmus, der die Videos für das kontroverse Autoplay-Feature liefert.

Als Ausgangspunkt für die Analyse nutzen die Forscher eine Liste von 1.080 YouTube-Kanälen. Darin: Die 250 meist geschauten YouTube-Kanäle, außerdem die Kanäle, deren Videos über den Wacht-Next-Algorithmus von diesen aus immer vorgeschlagen wurden, ebenso wie die Channels von Nachrichtenorganisationen und einige handverlesene Kanäle, die die Forscher als relevant erachteten. „Wir sammelten dann die 20 ersten Empfehlungen des Watch-Next-Algorithmus, ausgehend vom letzten Video, das von jedem der Startkanäle täglich von Oktober 2018 bis Februar 2020 hochgeladen wurde“, beschreiben die Autoren. „Die 1.000 meist empfohlenen Videos an diesem Tag wurden gespeichert und für unsere Analyse verwendet.“

Einige Verschwörungen werden weiterhin geduldet

Laut der Studie gab es zu Beginn der Datenerhebung Ende 2018 einen regelrechten Boom von Verschwörungsinhalten. Aber nach der Ankündigung von YouTube, gegen die Empfehlung von Verschwörungsvideos vorzugehen, sind die Zahlen kontinuierlich gesunken. Insbesondere seit April 2019 sei die Zahl der grenzwertigen Empfehlungen stetig abgeflacht, schreiben die Forscher: um bis zu 70 Prozent im Mai 2019. Auch YouTube selbst berichtete im Juni 2019, dass die Aufrufe von zuvor vorgeschlagenen Verschwörungsvideos um 50 Prozent und, wie es im Dezember hieß, um 70 Prozent zurückgegangen seien. Das sei eine Nachricht, „die mehrheitlich konsistent mit unserer Analyse ist“, heißt es nun in der unabhängigen Studie.

Allerdings sei die Zahl der empfohlenen Verschwörungsvideos seitdem langsam, aber sicher wieder gestiegen. Die Reduktion läge heute nur noch bei rund 40 Prozent – verglichen mit der Zeit zu der YouTube begann, gegen Verschwörungen vorzugehen. Dennoch habe es YouTube geschafft, einige Arten von Verschwörungstheorien fast vollständig aus seinen Empfehlungsalgorithmen herauszuhalten. Insbesondere Theorien zu 9/11 und der flachen Erde würden kaum noch auftauchen.

Noch oft vorgeschlagen würden hingegen Videos und Dokumentation , in denen der Klimawandel geleugnet wird. Über die Zeit der Studie hinweg, sei beispielsweise ein Clip namens The truth about global warming von Fox News ganze 15.240 Mal vorgeschlagen worden. In dem Video erklärt der auch von der Öl-Industrie finanzierte Wissenschaftler Patrick Michaels, dass die möglichen Folgen des Klimawandels weit übertrieben würden. Verschwörungstheorien, die ebenfalls mehrfach auftauchten, bringen hingegen Nikola Tesla und freie Energie mit Pyramiden in Verbindung oder behaupten, dass die NASA aufgrund von Geheimbasen von Außerirdischen nach Apollo 17 nicht mehr zum Mond geflogen ist.

Wie die Studienautoren sagen, würden sie auch jetzt noch „nicht ganz verstehen, wie die Empfehlungsalgorithmen von YouTube funktionieren“. Im Gespräch mit der New York Times erklärten sie aber, dass einiges darauf hindeute, dass YouTube bewusst entschieden habe, manche „Falschinformationen“ bedingt zuzulassen und andere nicht – aber das nicht öffentlich eingestehen wolle. „Es ist ein technologisches Problem, aber letztlich ist es auch ein politisches Problem“, sagt Hany Farid von der University of California. „Wenn sie die Fähigkeit haben, die Verbreitung einiger sehr problematischer Inhalte gegen Null zu fahren, dann wäre noch mehr möglich.“

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Ui…sehr cooler Artikel, der sehr tief blicken lässt…und etwas beängstigend ist. Youtube meint es bestimmt gut, ABER: Die Lüge ist die höchste Form der Meinungsfreiheit und Zensur ist das Ende der Demokratie. Das Problem ist ja nicht, dass Leute Bullshit reden, sondern dass andere es glauben. Dieser blinde Glaube würde ja verstärkt durch die alberne Behauptung, man hätte alle Verschwörungstheorien bei Youtube identifiziert und gelöscht (Hätte Youtube im Mittelalter Galileos Videos löschen müssen?). Aus Angst vor populistischen Ideen basteln wir uns gerade freiwillig ein totalitäres System.

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Zensur ist es ja nicht. Denn dann würde ein staatliche Stelle regeln, was veröffentlicht werden darf und was nicht. Und es wird ja auch keine Veröffentlichung unterbunden, sondern eine Sichtbarkeit eingeschränkt, die vorher grenzwertig verstärkt worden war. Daher finde ich den Vergleich mit „Galileos Videos“ eher unzutreffend ; )

Aber ja, natürlich kann man hinterfragen, ob der Weg von Youtube der beste und gangbarste ist. Ideal ist es jedenfalls nicht und deine Anmerkung, dass das Problem ist, dass Menschen den Mist glauben, ist natürlich erstmal richtig.

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Ich finde es zwar richtig, dass YouTube einschränkt, dass offensichtlicher Verschwörungscontent nicht auch noch eine gigantische Reichweite bekommt… Aber teile auch den Punkt, den du machst. Der Grund, warum Leute selbst krudeste Dinge glauben, ist ja nicht YouTube. Und auch nicht Facebook oder Twitter und ihre Algorithmen. Die Ursache ist gesellschaftlich… und kann auch nur so gelöst werden, denke ich. Das YouTube-Manöver ist also eher ein Feuerwehreinsatz denn eine Lösung.

Davon abgesehen ist es schon ungut, dass werbefinanzierte Tech-Konzerne inzwischen zu entscheiden haben, was von wem gesehen werden soll und was nicht… Macht auch nicht gerade den Eindruck, als wären sie mit dieser Rolle sonderlich glücklich. Aber bei dem Geschäftsmodell geht’s halt nicht anders.

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Da hab ich wirklich zu schnell losgebellt - danke für den Hinweis :wink: Bei dem Überangebot von Youtube ist nur die Frage, ob eine Nicht-Bewerben von Inhalten einer Zensur nicht praktisch sehr Nahe kommt…Wobei Du natürlich recht hast, dass es keine staatliche Zensur im engen Sinne ist, vll eher eine Selbstzensur? Ob es nun auf staatliche Anordnung hin geschieht oder aus vorauseilendem Gehorsam führt aber oft zu vergleichbaren Konsequenzen. ← Aus meiner Antwort spürst Du noch den tiefseitzenden Frust über die „Zensur“ meines Lieblingsvideos (bei YT ohne Altersbeschränkung) durch den facebook Nudity-Detection-Algorithm :slight_smile:

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Das denkst nicht nur Du. George Soros hat 1.000.000.000 USD zur Förderung kritischen Denkens gestiftet - das ist mal ein ziemlich elegante Art zu sagen „Fuck the system“ :smiley:

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Richtig, das ist der wesentliche Punkt. Warum werden / wurden besonders die Verschwörungsvideos vorgeschlagen? Weil die Leute drauf abfahren. Warum fahren sie drauf ab? Weil sie gedankenlos diesen Schund konsumieren.

Und die folgerichtige Frage, weshalb sie diesen Schund gedankenlos konsumieren, ist nicht so einfach zu beantworten. Das geht von „weil sie es nicht anders gelernt haben“ bis zu „weil es einfach einfacher ist, sich in Verschwörungstheorien zu flüchten, wenn man sich in der Realität nicht mehr wiederfindet und sich macht- und hilflos fühlt“

Früher waren Götter und Religionen ein willkommener Ausgleich und Anker inmitten der eigenen Unwissenheit und Machtlosigkeit, heute sind es Verschwörungstheorien und die Medien und Menschen, die diese als Alleingänger oder organisiert in Parteien, Sekten, Social-Media Gruppen etc. bewusst verbreiten (und in den inkompetenten gedankenlosen Konsumenten dankbare Abnehmer finden).

Bildung und Aufklärung ist ein ganz wichtiger Punkt, um dem entgegenzuwirken. Lernt man in den Schulen heutzutage sowas wie Internet- oder Medien- bzw. Social Media-Kompetenz? Ich wüsste nicht.
Da muss man sich über die heutige Sensations- / Trittbrettfahrer- und Shitstorm Kultur nicht wundern.

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Bei einer Selbstzensur würde sich der Youtuber selbst zensieren müssen. Denn Youtube ist ja kein Presseorgan, sondern eine Plattform. Und einer Zensur nahekommen? Würde ich auch nicht sagen. Denn jene Menschen, die diese Inhalte sehen wollen, können sie ja weiterhin finden. Ebenso können die Ersteller sie ja selbst auf anderen Kanälen wie Twitter, Facebook, etc. pp. bewerben. Es ist wie mit Videospielen, die keine Jugendfreigabe erhalten: Sie werden nicht beworben aber können dennoch gekauft werden - und das passiert in nicht unerheblicher Menge.

Dennoch interessant in diesem Zusammenhang:

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Es ist eine Mischung aus beidem, würde ich sagen, denn

Die Filter-Blase ist da, solange auch keine transparenten Algorithmen existieren. Der Nutzer sollte wissen, warum er genau jetzt diese Dinge angezeigt bekommt. Cambridge Analytica hat gezielt Zielgruppen Inhalte zugespielt, um ihr Verhalten zu beeinflussen. Ein weiterer wichtiger Punkt:

Exakt. Man vermisst es überall.

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Haben wir da nicht ein Henne-Ei Phänomen? Du schreibst

Ich würde schon sagen, dass es an diesen Medien liegt und die Gesellschaft sich sozusagen daran gewöhnt hat, auf solchen Content aufzuspringen. Meiner Einschätzung nach wird hier ja, um mit Kahnemann zu sprechen, ja eine (Verfügbarkeits-)heuristik angewendet. Stattdessen ist ein Realitycheck nötig, welcher mangels Muße nicht stattfindet.
Andersrum müsste man sich ja fragen, ob diese gesellschaftliche Tendenz auch ohne Youtube&Co entstanden wäre?

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War sie nicht schon immer da? Nur ohne soziale Netzwerke hat man davon weniger mitbekommen? Bleibt natürlich trotzdem ein Henne/Ei-Problem :wink:

Wie krass ist das denn? Ich finde es gut, dass sich die großen Konzerne Ihrer Verantwortung bewusst werden und handeln wollen. Aber solche Maßnahmen haben haben immer so einen komischen Beigeschmack von Willkür. In dem Zusammenhang auch passend die geplante Aktion von Mozilla zum Weltfrauentag: https://www.wuv.de/tech/techtaeglich_firefox_macht_aus_bitches_heldinnen

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Umso wichtiger wäre mehr Transparenz über die Algorithmen, die entscheiden, was wir wie wann wo und wie oft gezeigt kriegen. Die Entscheidungsgrundlage, ob man so einen Dienst dann nutzen will oder nicht, wäre dann zumindest besser.

Ich sehe das auch sehr sehr problematisch! Um mal ganz vorne bei den Begriffen anzufangen, was bedeutet „Verschwörung“? Umgangssprachlich verstehe ich darunter erstmal ein konspiratives Komplott mit bestimmten Absichten. (Dann gibt es auch noch den Begriff der „Verschwörungsideologie“, ja gut, aber trotzdem.)
Erstens scheint mir also schon mal der Begriff einigermaßen verfehlt, weil es in vielen der als „Verschwörungstheorien“ beschimpften Weltsichten zunächst mal um eine andere Ansicht zur Weltbeschaffenheit oder zu Ereignissen geht und in den wenigsten um die Verschwörung im eigentlichen Sinne und zu einem bestimmten Zweck in welcher Absicht auch immer.
Zweitens frage ich mich, wer denn bitte entscheidet, was in den Topf „Verschwörungstheorien“ geworfen wird" und nach welchen Kriterien? Youtube sollte (zumindest nach meiner Auffassung) allen Gedanken Raum geben, sofern sie zu keinem Schaden führen, was m.E. das einzige wichtige Kriterium ist, mit anderen Worten, es ist wichtiger, Bombenbauanleitungen zu löschen als Berichte über Aliens. Die fertige Bombe schadet sehr wohl, der Alienbericht dürfte vollkommen wurscht sein!
Davon abgesehen: Wer sagt denn, dass alles, was seltsam anmutet, Unsinn ist? Hättest Du Dich im 18. Jahrhundert hingestellt und gesagt: „Übrigens, man kann so ein Ding aus Glas und Metall an die Decke hängen und das macht Licht, wenn man da Strom durchleitet,“ wärst Du im besten Fall im nächsten Irrenhaus gelandet (falls schon vorhanden). Höchstens ein, zwei Forscher, die mal an einem Bernstein gerieben haben, hätten dunkel ahnen können, dass es sowas wie Strom gibt.

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Du spricht da prinzipiell einen interessanten Punkt an, @M_online : Natürlich ist der Begriff Verschwörungstheorie nicht für alles passend. Denn Dinge wie die Präastronautik – also die Idee, das Alien beispielsweise die Pyramiden erbaut haben – sind erstmal keine Verschwörungstheorien; zumindest nicht auf den ersten Blick. Aber der Begriff hat sich nun einmal für eine breite Spanne an Vorstellungen und tatsächlichen Verschwörungstheorien etabliert. Ist nun mal so.

Dabei sollte man aber, denke ich, in einigen Bereichen durchaus unterscheiden. Nämlich zwischen harmlosen Verschwörungsmärchen, wie sie etwa in vielen Akte-X-Folgen verarbeitet werden, und tatsächlichen Verschwörungstheorien, die dann eben auch Menschen zu gefährlichen Taten animieren können, Menschen diskriminieren und gefährden.

Erstens scheint mir also schon mal der Begriff einigermaßen verfehlt, weil es in vielen der als „Verschwörungstheorien“ beschimpften Weltsichten zunächst mal um eine andere Ansicht zur Weltbeschaffenheit oder zu Ereignissen geht und in den wenigsten um die Verschwörung im eigentlichen Sinne und zu einem bestimmten Zweck in welcher Absicht auch immer.

Das ist zum Teil korrekt. Aber man muss dabei im Blick behalten, dass viele dieser Weltsichten auch aus dem Grundgedanken der mutmaßlichen Verschwörung entspringen.

  • Die Welt ist eine Scheibe = die Regierungen der Welt, die NASA und ESA etc. pp belügen uns.

  • Es gibt eine geheime Weltregierung = die Regierungen der Welt belügen uns, weil es nur eine geheime Weltregierung gibt, die uns belügt.

  • Aliens entführen Menschen und züchten Alien-Mensch-Hybrid = Aliens agieren im Geheimen und die Regierungen der Welt belügen uns darüber.

Wobei es richtig und wichtig ist, dass diese Grundannahmen der mutmaßlichen Verschwörung aus bestimmten psychologischen und kulturellen Dispositionen entspringen: Misstrauen gegenüber Autoritäten, rassistische, antisemitische xenophobe Prägungen, ein geschwächtes Empfinden der Selbstwirksamkeit etc. pp.

Zweitens frage ich mich, wer denn bitte entscheidet, was in den Topf „Verschwörungstheorien“ geworfen wird" und nach welchen Kriterien?

Nun, in diesem Fall ein gewisse gesellschaftliche und kulturelle Faktizität. Denn vieles lässt sich recht einfach als Verschwörungstheorie klassifizieren, weil es einfach eine ist. Ansonsten: Natürlich entscheidet es Youtube auch selbst – da es als Plattform ein „Hausrecht“ besitzt und damit auch Inhalte moderieren und kuratieren kann.

Youtube sollte (zumindest nach meiner Auffassung) allen Gedanken Raum geben, sofern sie zu keinem Schaden führen, was m.E. das einzige wichtige Kriterium ist, mit anderen Worten, es ist wichtiger, Bombenbauanleitungen zu löschen als Berichte über Aliens. Die fertige Bombe schadet sehr wohl, der Alienbericht dürfte vollkommen wurscht sein!

Das ist eine sehr idealistische Sichtweise. Aber ich glaube, man kann gut sagen, dass Youtube wohl keinen Gedanken einen Raum geben sollte, die zu Gewalt, Rassismus oder Holocaustleugnung aufrufen, oder? Dazu bitte nicht vergessen: Youtube löscht keine Verschwörungstheorien, sondern schränkt durch das Ausfiltern aus dem Empfehlungsalgorithmus die Sichtbarkeit ein. Gelöscht werden sie nicht. Und es geht nicht um Aliens, sondern um Verschwörungstheorien, die einem rassistischen, extremistischen oder antisemitischen Verhalten einen Vorschub leisten. Oder Menschen in Gefahr bringen. Wie beispielsweise der Verschwörungstheoretiker Alex Jones, der behauptete, dass der Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School nur „gespielt“ war und daraufhin Menschen die Überlebenden belästigten oder sogar angriffen.

Davon abgesehen: Wer sagt denn, dass alles, was seltsam anmutet, Unsinn ist? Hättest Du Dich im 18. Jahrhundert hingestellt und gesagt: „Übrigens, man kann so ein Ding aus Glas und Metall an die Decke hängen und das macht Licht, wenn man da Strom durchleitet,“ wärst Du im besten Fall im nächsten Irrenhaus gelandet (falls schon vorhanden). Höchstens ein, zwei Forscher, die mal an einem Bernstein gerieben haben, hätten dunkel ahnen können, dass es sowas wie Strom gibt.

Das sagt niemand (oder zumindest sehr wenige). Es gibt ja nämlich durchaus Verschwörungstheorien, die sich als wahr herausstellten. Sei es MK Ultra, die Drogenversuche der CIA; dass John Lennon unter Beobachtung des FBI stand; dass die US-Regierung während der Prohibition Alkohol vergiftete oder Gladio.

Aber es gibt eben auch durchaus Verschwörungstheorien oder irrationale Vorstellungen, die einfach Unsinn sind. Einfach weil sie gegen wissenschaftliche Prinzipien verstoßen, mehrfach widerlegt wurden oder einfach auch keine Anhaltspunkte und Beweisansätze vorhanden sind.

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Das zählt für mich gewissermaßen unter den erweiterten Bereich „Bombenbauanleitung“, ganz klar. Wobei es Fälle gibt, die von der Interpretation des Lesenden/Sehenden abhängen. Wieviel wird unterstellt und was war tatsächlich gemeint? Theoretisch kann alles als Angriff aufgefasst werden - z.B. könnte ein Alienbericht als Zustimmung zum Stürzen der US-Regierung interpretiert werden - es können Implikationen unterstellt werden, die so einfach nicht stimmen. Sowieso neigen die Menschen dazu, als erste Reaktion (oftmals negative) Absichten zu unterstellen (was übrigens wissenschaftlich belegt ist).

Genauso wie manche Beobachtungen (zum Beispiel kann die Überlegung, wie gut ein bestimmter Immigrant dauerhaft hierherpasst, sinnvollerweise durchaus vom Gedanken um dessen soziales und emotionales Wohlergehen getragen sein und nicht von politischer Absicht, die so schnell unterstellt wird) werden bestimmte neue Theorien als „Verschwörung“ (mit implizierter, möglicherweise zerstörerischer Absicht, und diese unterstellte Absicht ist der entscheidende Unterschied) gebrandmarkt und schon das Benennen von Beobachtungen und möglichen Schlussfolgerungen abgestraft. Solange es sich um keine Inhalte mit konkreter Schadensabsicht handelt (wie z.B. im Zitat ganz oben), muss m.E. die geistige Freiheit hohen Stellenwert haben.

Es hat im Laufe der Wissenschaftsgeschichte sehr verschiedene Auffassungen über wissenschaftliche Prinzipien gegeben. Aktuell vorherrschend ist wohl noch Poppers Grundsatz, dass eine Theorie wohl untermauert, doch nie gänzlich bewiesen werden kann. Was bedeutet: Auch unsere Weltsicht besteht lediglich aus (noch) nicht widerlegten Hypothesen (die einen besser, die anderen schlechter untermauert). Das ist unser aktuelles Paradigma. Zum Thema Anhaltspunkte und Beweisansätze: Hatte der Durchschnittsmensch im 18. Jahrhundert Anhaltspunkte, dass es einmal etwas wie eine Glühbirne geben würde? Wie man es dreht und wendet, wir leben in einer Welt aus konstruierten „Wahrheiten“ und wir lieben das, was wir gewohnt sind, weil es uns sicher erscheint. Das gilt auch für Ideen. Natürlich versucht die Wissenschaft unseres Paradigmas, Theorien kritisch zu überprüfen und gerade deswegen ist es ihre Pflicht, das bei neuen Theorien genauso zu tun. Man mag gar nicht glauben, wieviel unserer Weltsicht von massierten und rechnerisch verzerrten Daten abhängt, von denen wiederum abhängt, ob die Belege zu wissenschaftlichen Theorien dann als „signifikant“ gelten oder nicht, wovon wiederum (zumindest bisher und oftmals) abhängt, ob publiziert wird, wovon wiederum - über kurz oder lang - abhängt, was Sie und ich (mehr oder weniger) glauben, „wie die Welt ist“. Weiterhin hängt für so manchen Forscher die Reputation oder sogar der Arbeitsplatz von der Publikationsfähigkeit der Arbeit ab (also ob sich die Hypothese bestätigt), noch nicht davon zu reden, dass so mancher Wissenschaftler sein Baby, ergo seine Theorie, ungern aufgibt.

Daher ist die Wissenschaft kein heiliger Gral, sie besteht aus Menschen, die die Pflicht wahrnehmen sollten, nicht nur umfassend zu überprüfen, sondern auch das Neue wertfrei zu betrachten.

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