Ohne Raketen wäre die heutige Raumfahrt undenkbar. Sie gelten als Errungenschaften der Militär-, Luft- und Raumfahrtforschung des Industriezeitalters. Aber Raketen gibt es schon seit Jahrhunderten. Und selbst moderne Raketenkonzepte sind offenbar älter als es lange schien. Bereits vor 500 Jahren erdachte ein österreichischer Waffenbauer die Mehrstufenrakete – und wohl auch ein primitives Raumschiff.
Von Michael Förtsch
Am ersten Weihnachtsfeiertag 2021 wurde es in Kourou ziemlich laut. Denn um 12:20 Uhr startete vom Raumfahrtzentrum Guayana in Französisch-Guayana das James-Webb-Weltraumteleskop ins All, das in den kommenden Jahren und Jahrzehnten unser Verständnis über die Entstehung des Universums erweitern soll. Getragen wurde die über sechs Tonnen schwere und mehrere Milliarden Euro teure Apparatur von einer Ariane-5-Rakete, der leistungsstärksten Trägerrakete, die in Europa gefertigt wird. Ohne solche Raketen wäre der seit Jahrzehnten nach und nach immer ambitioniertere Vorstoß ins All unmöglich – und Gedanken an Raumstationen im Erdorbit oder sogar Kolonien auf dem Mars nur träumerische Spinnereien. Die Entwicklung der Raketen wird vor allem großen Namen der Luft- und Raumfahrt zugeschrieben: Hermann Oberth, Robert Goddard, Sergei Koroljow und Wernher von Braun beispielsweise.
Eine Rakete ist eigentlich alles andere als eine neue Erfindung. Die Idee, mit entzündetem Schießpulver oder Flüssigkeiten einen Rückstoß zu erzeugen und damit etwas in die Luft zu feuern, gab es nach heutigen Erkenntnissen bereits im 12. Jahrhundert. Und zwar im China der Song-Dynastie. Bis ins Jahr 1232 lässt sich der erste dokumentierte Start einer Rakete zurückverfolgen. Die Feuerdrachen , wie sie genannt wurden, wurden zunächst genutzt, um Feuerwerke zu veranstalten, die bei Festlichkeiten den Himmel in bunte Farben tauchten. Aber recht schnell wurden sie auch als Waffen eingesetzt – unter anderem sollen die mit einem kleinen Treibsatz verbundenen Pfeile gebraucht worden sein, um mongolische Krieger abzuwehren, die Kai-Fung-Fu belagerten. Zumindest ist dokumentiert, dass „Pfeile aus fliegendem Feuer“ dabei halfen, die Stadt zu verteidigen.
Sonderlich viel weiterentwickelt haben sich Raketen nach ihrer Entdeckung zunächst nicht. Größer wurden sie, mehr Gewicht konnten sie tragen – aber das war es. Berühmt ist die Legende von Wan Hu, einem chinesischen Mandarin, der mit 47 an einem Stuhl befestigten Mini-Raketen in den Himmel fliegen wollte – aber stattdessen bei einer Explosion seines Feuerstuhls ums Leben kam. Dennoch waren die chinesischen Pyrotechniker mit ihrer Raketentechnologie dem Rest der Welt über Jahrhunderte voraus. Jedenfalls bis zum 16. Jahrhundert. Denn da forschte und bastelte ein Waffenbauer bei Hermannstadt – auf rumänisch Sibiu –, nahe einem Ausläufer der Südkarpaten, an Raketen, die aus heutiger Perspektive erstaunlich modern wirken.
Ein vergessener Pionier?
Der Name Conrad Haas findet sich bislang in kaum einem Geschichtsbuch, wenn es um die Historie der Raketen- und Raumfahrttechnik geht. Das ist auch wenig verwunderlich, denn er war fast fünf Jahrhunderte vollkommen vergessen. Erst seit wenigen Jahren werden seine Person und seine Kreationen zu Tage gefördert und erforscht. Soweit bekannt, wurde Conrad Haas wohl gegen 1509 in Dornbach bei Wien geboren. Seine Vorfahren sollen „vom Haasenhof“ aus dem bayerischen Landshut nach Österreich migriert sein. Wie und wo er genau aufwuchs, das lässt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Nachvollziehen lässt sich allerdings, dass er später zum Zeugwart in der Armee unter Königs Ferdinand I. wurde – also für die Wartung und Ausgabe von Rüstungen und Waffen zuständig war.
Aber Haas war auch Büchsenmeister, er reparierte und fertigte primitive Schusswerkzeuge, bei denen mit Schwarzpulver aus geschmiedeten Rohren kleine Kugeln oder Schrapnelle abgefeuert wurden. Das ist ein Handwerk, das er wohl von seinem Vater gelernt und um das Wissen aus einem Feuerwerksbuch erweitert hat, dessen ursprünglicher Urheber nicht bekannt ist. Im Jahre 1551 wurde Haas dann mit seinen Soldatenkameraden nach Hermannstadt kommandiert, wo er fortan die Leitung der Ausrüstungskammern übernahm – und aktiv an Raketen forschte. Zumindest ist es das, was sich aus den Hinterlassenschaften von Haas herauslesen lässt. Denn er hat das Feuerwerksbuch nicht nur studiert, sondern zwischen 1529 bis1569 mit eigenen Ideen, Erkenntnissen und Erfindungen erweitert und fortgeschrieben.
Conrad Haas hatte es dafür mit einem neuen Deckblatt versehen und als Kunstbuch – der Feuerwerks- und Handwerkskunst – betitelt. Über Jahrzehnte war es im Archiv von Hermannstadt unter der Signatur Varia II 374 eingelagert, bis es in den 1960ern vom Technikhistoriker Doru Todericiu entdeckt und als geschichtsträchtig erkannt wurde. Aufmerksamkeit erweckten die Skizzen und Einfälle aber erst weit später. Was Haas in dem Buch skizziert, sind Raketen aller Art. Darunter dicke Bolzen und Lanzen, die mit einzelnen oder mehreren Treibladungen versehen sind. Neben diesen immer noch vergleichsweise einfachen Raketentypen, finden sich jedoch auch Zeichnungen von einem Raketenkonzept, das eigentlich dem polnischen Erfinder Casimir Simienowicz zugeschrieben wurde, der erst 100 Jahre später wirkte.
Was Haas auf den Buchseiten ausführt, ist nämlich die Konstruktion einer Mehrstufenrakete. Eine Rakete also, die nicht nur über einen Tank mit Treibstoff verfügt, der verfeuert wird. Stattdessen besteht eine solche Rakete aus mehreren Segmenten mit jeweils eigenen Tanks oder Ladungen – sei es Schießpulver oder ein Flüssigtreibstoff wie Branntwein oder auch Mischungen aus Schwefel, Kohle, Salpeter, Urin und Schnaps, wie Haas vorschlägt. Ist das erste Segment davon ab- und ausgebrannt, löst es sich und die nächste Raketenstufe zündet und treibt die Rakete weiter voran. Mit jeder neuen Stufe wird die Rakete leichter und kann der Anziehungskraft der Erde effektiver entkommen.
Als „zweye“ oder „drey Rackett ineinander geschoben“ beschreibt Haas seine Entwicklung, die er auf seinen Skizzen auch schon mit einer glockenförmigen Düse versehen hat, wie sie heute für Raketen vollkommen typisch ist. Auf die von Haas erdachte Weise funktioniert nahezu jede moderne Rakete, die in der Raumfahrt eingesetzt wird. Zwar wird angenommen, dass Haas wohl ab Mitte der 1550er bei Hermannstadt mehrerer Raketen abfeuerte. Ob er jedoch eine Mehrstufenrakete erfolgreich testete, das lässt sich nicht sagen.
Auch ein Raumschiff hat er wohl erdacht
In seinen Zeichnungen und Erklärungen beschreibt der Zeugmeister seine Mehrstufenraketen als einfache Träger, die in der Spitze etwa mehrere „Feuer(werks)kugeln“ tragen könnten – sowohl für militärische Zwecke als auch für Feuerwerk. Denn Haas war nicht nur Militärtechniker, sondern, wie er klar schreibt, auch begeistert von „schönem und künstlichem Feuerwerck“. Um das in großer Menge und sicher abzufeuern, entwarf er auch eine „einfach Orgel“, die an Feuerwerkbatterien oder eben moderne Mehrfachraketenwerfer denken lässt. Aber Haas erkannte offenbar auch, dass Raketen beziehungsweise deren Treibsätze noch ganz andere Dinge in die Höhe hieven könnten – für ganz und gar friedliche Zwecke. „ Aber mein Rhat wehr Friedt und kein Krieg “, heißt es auf einer Seite.
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Jetzt Mitglied werden!Auf einer Seite seines Kunstbuches beschreibt er in sehr einfachen Andeutungen die Idee für ein „fliegendes Häuschen“, wie der Historiker Hans Barth in einer Conrad-Haas-Biografie aufführt. Die veranlasse „einige Forscher zur Spekulation, dass Haas damit die Idee des heutigen Raumschiffes“, des Space Shuttle oder sogar einer Raumstation wie der Mir oder ISS vorweggenommen haben könnte. Das Haas mit den zu dieser Zeit noch simplen Treibstoffen und Werkzeugen ein solches Fluggerät hätte bauen können, ist zwar ausgeschlossen. Auch, dass er glaubte, ins All oder zu anderen Sternen reisen zu können, ist eher unrealistisch. Aber der Hermannstädter war sich offenbar durchaus bewusst, welche Tragkräfte mit den richtigen Treibsätzen erreicht werden, und dass Lebewesen damit in den Himmel befördert werden könnten. Auf einigen seiner Zeichnungen sind daher auch Tiere wie Katzen zu sehen, die an Raketen geschnallt sind. Laut den Autoren von Der Traum von Fliegen sei nicht ausgeschlossen, dass er „solche Tierversuche angestellt“ hat.
Die Idee, mit Raketen tatsächlich Menschen ins All zu befördern, wurde erst einige Jahrhunderte später von einem anderen Forscher aus Hermannstadt verfolgt. Nämlich dem deutlich bekannteren Raketen- und Raumfahrtpionier Hermann Oberth. Er fasste als einer der ersten die physikalischen, chemischen und aerodynamischen Grundlagen der Raketentechnik in einem Gesamtwerk zusammen – und legte die Funktionsprinzipien und Vorteile der Mehrstufenraketen aus. Er forschte im Raketen-Entwicklungszentrum in Huntsville, USA an Technologien für das US-Raumfahrtprogramm und war dabei, als 1969 die Saturn-V-Rakete abhob, die den ersten Menschen auf den Mond bringen sollte. Eine Rakete, die, wie bei einer Zeichnung von Haas, aus „drey Rackett ineinander geschoben“ besteht. Aber auch ganz moderne Raketen wie die Ariane 5, die Falcon-9-Raketen von SpaceX oder sogar das riesenhafte Starship folgen dem Mehrstufenprinzip – und lassen sich daher bis zum Feuerwerker auf Hermannstadt zurückverfolgen.
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