Thomas Sattelberger: „Man muss jetzt neu und radikal denken, sonst fährt das Land gegen die Wand“

Thomas Sattelberger saß lange im Deutschen Bundestag und im Vorstand großer deutscher Konzerne. In seinem neuen Buch rechnet er mit der Innovationspolitik in Deutschland ab und plädiert für ein neues, unternehmerisches Denken. Im 1E9-Interview sprechen wir über das Scheitern der Digitalisierung, Systemfehler in der Politik, Wege durch die Krise – und eine neue Gesellschaft im Zeitalter der KI.

Ein Interview von Krischan Lehmann

Eigentlich hat Dr. h. c. Thomas Sattelberger alles erreicht: Er hat in der Politik und in der Wirtschaft Karriere gemacht, einen langen Marsch durch Vorstandsetagen von DAX-Konzernen bis hinein in den Bundestag hinter sich. Nun könnte er in seiner Villa am Starnberger See nur noch den eigenen Hobbys frönen. Etwa seinem Kanal bei Tiktok, den er äußerst schätzt. Aber irgendwie ist der frühere Gründer der Revolutionären Jugend Deutschlands, Ortsgruppe Stuttgart, immer auch ein Rebell geblieben.

Nach einem beinahe geräuschlosen Abschied aus der Politik im Sommer 2022 liefert er nun mit seinem neuen Buch Radikal neu: Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft einen verbalen Paukenschlag. Und einen sorgsam kuratierten Strauß von wirklich guten Ideen aus seinen Kernfeldern Innovation, Transformation, Forschung und Bildung. Er habe nach seinem Abgang als Staatssekretär im Bildungsministerium eine „Schamfrist“ eingehalten, wie er zugibt, aber jetzt sei es doch an der Zeit, einmal ordentlich reinen Tisch zu machen.

1E9: Du schaust dir Deutschland seit Jahrzehnten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an – politisch, wirtschaftlich, in Bildungsfragen, in der Forschung und in Sachen Innovation. Im Moment wird dem Land eigentlich in all diesen Dimensionen eine Schwäche attestiert. Was ist deine Diagnose, warum schwächeln wir so?

Thomas Sattelberger: Wir schwächeln nicht, wir sind krank. Und ich kann das für mich bis ins Platzen der Dotcom-Blase zurückverfolgen, also etwa bis zur Jahrtausendwende. Damals haben einige wenige US-amerikanische Unternehmen wie beispielsweise Amazon und Google die Grundlage dafür gelegt, dass die USA nicht nur ein digitales Spielbein, sondern ein digitales Standbein bekommen haben. Bei uns sind währenddessen zehn Jahre Schläfrigkeit über das Land gegangen. Jetzt kann man sagen, dass wir in der Zeit die Hartz4-Reform und schwierige Jahre für die Wirtschaft hatten, aber zumindest seit 2010 haben wir die digitale Transformation systematisch verschlafen – und zwar nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, sondern auch in unseren klassischen Branchen Maschinen-, Anlagen- und Autobau.

Die Ökonomen sagen, dass die digitale Transformation den USA ungefähr 1,5 Prozentpunkte Produktivitätszuwachs gebracht hat, während unser Produktivitätswachstum von durchschnittlich zwei Prozent schleichend auf 0,5 Prozent zurückging. Inzwischen schrumpfen wir in der Leistung pro Kopf. Und das hat zutiefst mit den Produktivitätsfortschritten durch die digitale Ökonomie zu tun.

Warum fremdelt das weltweit hochgeschätzte deutsche Ingenieurswesen mit dem Digitalen so?

Thomas Sattelberger: Wir fremdeln nicht, wir haben es versaubeutelt!

Aber wieso?

Thomas Sattelberger: Wir sind nach wie vor ein Maschinenland. Was anfassbar ist, das lieben wir. Mit der Datenökonomie tun wir uns extrem schwer. Ich kann jetzt natürlich auch mit Clayton Christensen sprechen: ‚Erfolg ist die Ursache für Misserfolg.‘ Wer ein solcher Exportweltmeister war, der sieht halt nicht, dass Tesla heranwächst. Der ist auf beiden Augen blind. Der sieht auch nicht, wie die Südkoreaner cyberphysisch aufrüsten und dass der chinesische und südkoreanische Maschinen- und Anlagenbau eigentlich kein Nachzügler mehr ist, sondern ein erfolgreicher Mitbewerber. Deutschland hat sich in sein Standbein ‚Maschine‘ verliebt, so wie es in den 50er und 60er Jahren mal in Kohle und Stahl verliebt war.

Wir haben nicht mehr gesehen, dass andere Nationen beginnen, Spielbeine aufzubauen, beispielsweise im Bereich der Biotechnologie, New Space oder der Künstlichen Intelligenz. Das Biotech-Cluster rund um Boston ist nicht in den letzten drei Jahren entstanden, SpaceX auch nicht. Und ich habe gerade in einer McKinsey-Untersuchung gelesen, dass deutsche Unternehmen, insbesondere der Mittelstand, mit KI immer noch fremdeln. Und dass die, die nicht fremdeln, KI für Prozesseffizienz nutzen, aber nicht für neue Geschäftsmodelle.

Wir lieben unsere alten Konzerne, auch wenn sie margen- und innovationsarm dahinvegetieren.

Uns fehlt heute der Geschäftssinn?

Thomas Sattelberger: Wir denken nicht in Geschäftsmodellen. Aber dass wir keine Spielbeine aufgebaut haben, das ist sehr stark Staatsversagen. Es fehlen forschungsbasierte Ausgründungen, aus Universitäten und Forschungsinstituten wie Fraunhofer und Co heraus. Und warum? Wir lieben unsere alten Konzerne, auch wenn sie margen- und innovationsarm dahinvegetieren. Wir können uns eigentlich eine neue Ökonomie nicht vorstellen. Das hat aber auch zutiefst mit der Frage zu tun, wie die Beschäftigungsstrukturen in diesem Lande sind. Freelancer sind ja verteufelt. Und gerade digitale Freelancer sind extrem gründungsaffin. Aber über denen hängt das Damoklesschwert der Scheinselbständigkeit. Wir lassen neue Arbeit nicht zu. Wir reden über ‚New Work‘, aber innerhalb abhängiger Beschäftigung, und nicht über ‚New Working‘, im Sinne von wirklich neuer Arbeit. Die lassen wir nicht zu. Wir sind ein erfolgsverliebtes altes Land in spätrömischer Dekadenz.

Dein jetzt erscheinendes Buch heißt ‚Radikal neu‘. Wie sehen deine Maßnahmen für ein neues Denken aus? Was sollten wir tun?

Thomas Sattelberger: Wir werden zuerst eine Krise runterrutschen – und zwar ohne Halteseil. Das Thema ist gelaufen, einen schnellen Fix gibt es nicht. Ich habe mir sehr genau angeschaut, wie lange Großbritannien gebraucht hat, bevor eine Margaret Thatcher kam, wie lange es in Deutschland gedauert hat, bevor die Hartz-Reformen kamen. Wir reden bei einer nationalen Sanierung von einem Zeitraum von 10 bis 15 Jahren. Das ist die brutale Wahrheit, die ich in dem Buch ausdrücke. Uns steht ein ganz schmerzlicher Transformationsprozess bevor.

Aber das hört sich ja fast noch optimistisch an. Im Moment gibt es nicht wenige Stimmen, die einen Paradigmenwechsel prophezeien, wie es ihn oft in der Menschheitsgeschichte gab, dass sich ganze Produktions- und Machtzentren komplett verschieben, und jetzt eben zurück Richtung Asien, wo – Stichwort: multipolare Welt – gerade neue Allianzen entstehen…

Thomas Sattelberger: Ich wundere mich immer, wie wir uns das letzte Kapitel im Schauspiel angucken und die früheren Vorhänge übersehen. Das hat sich doch alles längst angedeutet. Und trotzdem sind die USA in Sachen Innovationskraft nach wie vor unschlagbar. In allen Innovations-Rankings, die ich kenne, hinkt China deutlich hinter den USA her. Mit einer sauberen Innovationspolitik sowohl des Staates wie der Wirtschaft hätte uns also niemand im Weg gestanden. Aber das Neue ist nicht geschaffen worden und die Reform des Alten auch nicht.

Ich habe selbst als Manager harte Krisen erlebt, die in der Betriebswirtschaft acht, neun Jahre gedauert haben, bevor die Blüte kam. Tim Höttges, Chef der Telekom, erntet jetzt seit ein paar Jahren die Früchte der Sanierung aus den Jahren 2007 bis 2009. Wer klassische Wirtschaft kennt, weiß dass die Veränderungszyklen dort viel langsamer sind. Auch das Silicon Valley hat eine extrem lange Anlaufphase gebraucht und ist dann exponentiell gewachsen. Wir denken heute oft gar nicht in diesen empirisch nachgewiesenen Zyklen, die es für Transformation braucht. Als Wirtschaftsmanager habe ich solche Krisen erlebt und die sind für mich überhaupt nicht schlimm. Das Wort Krise kommt aus dem Altgriechischen von κρίνειν - entscheiden. Man entscheidet sich, ob man weiter runterfällt oder ob man saniert. Und sanieren heißt Genesung. Dass diese Genesung häufig mit Schmerzen verbunden ist, ist selbstredend. Die Krise dieses Landes wird uns die Chance geben, uns zu erneuern. Oder wir werden abrutschen wie das alte Rom.

Wenn du der Abgeordnete einer Regierungspartei bist, dann bist du überwiegend Claqueur.

Du hast vorhin von Staatsversagen gesprochen und gescheiterter Innovationspolitik. In deinem Buch nennst du die Politik ein ‚System organisierten Misstrauens‘. Hältst du sie für grundlegend reformbedürftig?

Thomas Sattelberger: Ich hatte mal mit der Ökonomin Mariana Mazzucato, die ‚The Entrepreneurial State‘ geschrieben hat, vor Jahren eine lange Debatte dazu auf einem Panel. Und ich hab sie gefragt, ob sie weiß, was in Deutschland ein Beamter (‚civil servant‘) ist. Sie hatte natürlich eine ganz andere Vorstellung von Staat und ‚Civil Service‘. In den USA werden beispielsweise bei jedem Regierungswechsel 9000 Schlüsselpositionen auf den Prüfstand gestellt. Der Kongress muss jeden politischen Beamten neu ernennen. Das ist eine ganz andere Logik als bei uns. In Deutschland liegt – das schreibe ich in meinen Buch – die wirkliche Macht bei der Exekutive, also in der öffentlichen Verwaltung. Ich habe das als Abgeordneter erlebt: Wenn du der Abgeordnete einer Regierungspartei bist, dann bist du überwiegend Claqueur. Und wenn du Abgeordneter einer Oppositionspartei bist, dann schreibst du deine Anträge für den Papierkorb.

Das solltest du näher erklären.

Thomas Sattelberger: Ich habe sechs Jahre lang Politik erlebt und 40 Jahre die Wirtschaft. Beides sehr intensiv. Es gibt wenige, die so eine intime Kenntnis haben, nicht nur der Legislative, sondern auch der Exekutive. Und ich würde von mir sagen, dass ich als Staatssekretär dreimal soviel gearbeitet habe wie ein normaler. Ich habe mich also tief mit den ganzen Abläufen beschäftigt und eine Exekutive vorgefunden, die eigentlich nur das fortschreibt, was die Vorgängerregierung gemacht hat, und dann gerade noch 15 Prozent des Budgets hat, um neue Vorhaben anzuschieben. Ich habe immer von der Verfixkostung des Forschungshaushalts gesprochen: Es war, wie wenn der Haushalt eines Unternehmens zu vier Fünfteln aus Fixkosten besteht. Dass von den 20 Milliarden Euro, die das Forschungsministerium zur Verfügung hat, 16 Milliarden ‚verfixkostet‘ sind, weiß niemand.

Im Grunde hat also die Exekutive die Hosen an. Die Parlamentarier können in den Haushaltsverhandlungen am Schluss noch ein bisschen nachjustieren, aber nur ein bisschen. Wenn man das weiß, muss man tatsächlich die Frage stellen, ob der Staat in Deutschland überhaupt Innovationspolitik kann. Und jetzt kommt noch eins dazu: die Dummheit der allermeisten Abgeordneten. Das kannst du ruhig so schreiben.

Ein junger Hochschulabsolvent hat doch keine Kompetenz. Der hat vielleicht einen Kopf voll Wissen – aber ungeprüftes, ungetestetes Wissen.

Das ist inzwischen ein oft gehörter Vorwurf an den Politikbetrieb. Woran liegt das? Haben wir keine guten Incentives mehr für gute Leute, in die Politik zu gehen, oder nur mehr Transparenz und mehr sichtbare Kritik als früher, zum Beispiel durch die sozialen Medien?

Thomas Sattelberger: Die Soziologen sagen, dass das Personal schlechter wird. Wobei es in der Politik ja eine Gewaltenteilung gibt, also eine Judikative, Exekutive und Legislative. Ich rede jetzt nur über den legislativen Teil. Ich habe vor kurzem bei der Akademie für Politische Bildung in Tutzing einen Vortrag über die ‚Erosion der Staatlichkeit‘ gehalten und auch über die Inkompetenz vieler junger Abgeordneter gesprochen. Daraufhin sagte mir eine Professorin der LMU, dass es doch gut sei, wenn so gut ausgebildete junge Absolventen in die Politik gingen. Da fragte ich sie, ob sie denn jemals gehört habe, was Kompetenz ist. Kompetenz ist Wissen plus Anwendung von Wissen plus Reflexion von Wissen. Daraus entsteht Erfahrung und das ist Kompetenz. Ein junger Hochschulabsolvent hat doch keine Kompetenz. Der hat vielleicht einen Kopf voll Wissen – aber ungeprüftes, ungetestetes Wissen.

Und was wären sinnvolle Maßnahmen?

Thomas Sattelberger: Zum einen eine Ämter- und Mandatsbegrenzung. Denn eigentlich führt nur das Wissen, dass meine Zeit im Politiksystem endlich ist, wirklich dazu, dass ich mich ernsthaft mit der Frage auseinandersetze, was ich eigentlich noch kann. Ich habe auch mal mit dem Gedanken gespielt, bei meiner Partei den Antrag zu stellen, dass unsere Kandidaten mindestens zwei oder drei Jahre Berufserfahrung nachweisen müssen, um überhaupt auf eine Liste zu kommen. Mein eigener Nachfolger im Bundestagsmandat hat ein nicht abgeschlossenes Studium. Das sind nicht nur die Linken, die Grünen und die Sozialdemokraten. Wir selber haben genauso unseren Mist.

Die Politik braucht ein anderes Talentmanagement. Wir brauchen Kompetenzprofile, vielleicht sogar Assessment-Center. Nicht wie in den Firmen, schließlich sind Parteien Freiwilligen-Organisationen. Aber man könnte bei einer Kandidatenbefragung auch die Frage stellen, wo seine Stärken und Entwicklungsfelder sind und wie er es anpackt, um besser zu werden. Da könnten politische Parteien extrem viel von der Wirtschaft lernen.

Wir entscheiden doch, ob wir ein talentmagnetisches Land sind!

In deinem Buch sprichst du von einer „verluderten Leistungskultur und Leistungsmoral“. Da spielt vermutlich wieder unser hohes Wohlstandsniveau eine Rolle. Aber es gibt auch den Elefanten im Raum, dass wir eine stark überalterte Gesellschaft sind und sich die Firmen heute oft bei den jungen Leuten bewerben müssen, nicht mehr umgekehrt…

Thomas Sattelberger: Aber wir entscheiden doch, ob wir ein talentmagnetisches Land sind! Wenn wir uns heute beim Expatriate-Rating von internationes auf Platz 49 von 54 wiederfinden, heißt das: Keiner will zu uns kommen und bei uns bleiben. Viele der Länder, die wir heute zu den Innovationsnationen zählen, sind talentmagnetisch gewesen für qualifizierte Einwanderung. Das ist eine ganz andere Kategorie als das Thema Flucht und Asyl. Wenn ich das richtig sehe, sind 60 Prozent der Gründer im Silicon Valley aus der ersten und zweiten Einwanderungsgeneration. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Das heißt nämlich, auch wenn ein Land selbstgefällig wird, auch wenn es einen „Rust Belt“ hat, erhält es – so lange es in bestimmten Regionen Talente anzieht – seine Innovationskraft.

Und der zweite Punkt sind die Universitäten: Cambridge und Oxford in Großbritannien, genau wie die wichtigen Unis in den USA verstehen sich als Transformationsmotoren. Dort weht der Geist des Unternehmertums durch die Vorlesungssäle, während bei uns der Geist des Beamtentums durchweht. Wir wissen aus dem Entrepreneurship-Monitor, dass Gründer mit Migrationshintergrund meist globale Geschäftsmodelle haben wollen, während sich deutsche Gründer oft damit zufrieden geben, einigermaßen den deutschen oder europäischen Markt zu bedienen. Da fehlt der Hunger, wirklich etwas zu schaffen! Und natürlich brauchst du dann Maschinen, die diesen Hunger befriedigen – und das sind eben die Gründeruniversitäten in Großbritannien, USA, Dänemark oder die ETH Zürich in der Schweiz. Da kommt die TU München nicht ran.

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Und was ist dein Vorschlag, um die Institutionen zu entstauben?

Thomas Sattelberger: Ich werde jetzt mal sehr handwerklich: Als ich bei der Telekom war, hatte ich in der deutschen Belegschaft noch 40.000 Beamtinnen und Beamte. Denen haben wir dann überwiegend privatwirtschaftliche Verträge gegeben, ohne dass sie ihren Beamtenstatus verloren haben. Und das Verrückte war: Sie waren – nachdem sie dem Gefängnis entronnen waren – sehr leistungsstark. Jetzt können wir den Beamtenstatus in Deutschland natürlich nicht abschaffen. Aber du könntest kritische ministerielle Infrastrukturen, wie zum Beispiel die Agentur für Arbeit, das Bundesamt für Migration oder das Beschaffungsamt der Bundeswehr in Agenturen auflösen, in denen zwei Drittel der Belegschaft einen Beamtenstatus mit privatwirtschaftlichen Verträgen haben und ein Drittel Leute aus der Privatwirtschaft sind – ohne ministerielle Fachaufsicht. Das ist aus meiner Sicht der einzige Weg, um in der öffentlichen Verwaltung die nötigen Innovationsaufgaben zu reintegrieren.

Außerdem schlage ich Sonderwirtschaftszonen für Deep Tech vor – wie sie Großbritannien bei Cambridge und Oxford, Southampton und Manchester eingerichtet hat. Es geht mir also nicht um eine Revolution, einen whole systems change, sondern um den Bau von strukturellen Innovationsbrücken…

Also im Grunde Innovationslabore, wie man sie aus Unternehmen kennt, im großen Stil gedacht.

Thomas Sattelberger: Ich plädiere – bevor wir über einen radikalen Strukturwandel reden – für dosierte Freiheitszonen. Die dänische Schulministerin beispielsweise hat vier Regierungsbezirke zu Sonderbildungszonen erklärt, wo alle staatlichen Regulatorien außer Kraft gesetzt worden sind. Man muss jetzt wirklich beginnen, neu und radikal zu denken, sonst fährt das Land gegen die Wand.

Wenn du eine extreme Kostensituation prognostiziert, dann geh woanders hin!

Was würdest du denn – sagen wir mal – einem Mittelständler raten, der nicht auf die Politik warten kann, der jetzt vielleicht merkt, dass seine Geschäftsmodelle nicht mehr tragen, und sich neu orientieren muss? Was ist der beste Weg, um sich zu transformieren?

Thomas Sattelberger: Jetzt bin ich mal sehr unpatriotisch. Ich würde zu ihm sagen: Wenn du eine extreme Kostensituation prognostiziert, dann geh woanders hin! Da bin ich ein ganz nüchterner Betriebswirt. Ich habe übrigens auch nichts gegen Deindustrialisierung – wenn gleichzeitig die Spielbeine einer Nation wachsen. Traditionelle Wirtschaft geht unter, neue Wirtschaft wächst. In Dänemark kann man wunderbar sehen, wie Akustik-, Optik- und Biotechnologie gewachsen und alte ökonomische Zweige abgestorben sind.

Das hilft nur gerade dem deutschen Mittelständler nicht.

Thomas Sattelberger: Wenn er noch Handlungsoptionen hat, sollte er seine energie- und arbeitskostenintensive Produktion verlagern. Das ist nichts Neues für Deutschland, solche Wellen hatten wir ja schon in den 2010er Jahren. Wenn er sich das nicht zutraut, sollte er sein Unternehmen verkaufen – und zwar an solche, die es transformieren wollen und können. Und als dritte Möglichkeit würde ich sagen: Überwinde deine Scheu vor Fremdkapital! Die Digitalisierung mittelständischer Unternehmen frisst ja extrem viel Geld und viele trauen sie sich eigenkapitalfinanziert gar nicht mehr zu. Wenn du aber Eigenkapital hast, dann kannibalisiere! Experimentiere mit neuen Geschäftsmodellen. Wobei diese Zeit eigentlich schon vorbei ist.

Zum Schluss noch eine Frage zur individuellen Transformation – die in deinem Buch ja auch eine große Rolle spielt. Dort schreibst du: ‚Sinnvolle Arbeit schafft Lebenssinn. Wir müssen die sinnlose Arbeit bekämpfen!‘ Nun sehen wir beispielsweise im Bereich KI, dass das gar nicht so einfach ist. Anfangs dachte man, dass KI nur die sinnlosen Tätigkeiten wegautomatisiert, nun erleben wir aber, wie sie in Kreativberufe eingreift, die immer als Hort der sinnvollen Arbeit galten…

Thomas Sattelberger: Augenblick! Ist es wirklich so, dass KI die kreativen, intellektuell anspruchsvollen Nicht-Routine-Jobs auch betrifft? Ich hätte da meine Zweifel. Der Trigema-Chef Wolfgang Grupp hat ja mal den Spruch getätigt: ‚Leute die Homeoffice wollen, brauchen wir eigentlich nicht.‘ Das muss man mal intellektuell durchdenken. Eigentlich heißt das: Homeoffice können die machen, die anspruchsvolle oder anspruchslose Routinen bewältigen. Routinen!

Die sogenannte General-purpose AI zwingt uns, höhere Stufen der Intellektualität zu erreichen.

Ich meinte eher, dass durch KI die Einstiegshürden in kreative Tätigkeiten massiv weiter abgesenkt werden und wir vermutlich bald eine Inflation von Inhalten erleben werden – mit entsprechenden Folgen für deren Wert. Im Bereich der Musik werden heute schon ca. 100.000 Songs am Tag zu Streaming-Diensten hochgeladen.

Thomas Sattelberger: Das ist doch einfach der Lauf der Dinge! Und wenn ich mir beispielweise die humorlose, unironische, nicht bewertete, faktizistische Arbeit vieler Wissenschaftsjournalisten anschaue, muss ich sagen: Ja, das kann auch ChatGPT. Die sogenannte General-purpose AI zwingt uns, höhere Stufen der Intellektualität zu erreichen. Das ist die eigentliche Herausforderung! Das ist aber für ein beschissenes Bildungssystem wie hier in Deutschland ein Desaster.

Die Frage ist natürlich auch, wie viele Menschen diese „höheren Stufen der Intellektualität“ überhaupt betreten können…

Thomas Sattelberger: Ich glaube, die ganzen sozio-emotionalen Tätigkeiten werden einen Aufwuchs ohne Ende haben, wie das Thema Pflege. Bedeutungslose Tätigkeiten werden plötzlich bedeutungsvoll! Auch die Sozialarbeit wird zum Schlüsselthema: Leute, die den jungen Menschen sozialen Zusammenhalt vermitteln und Identität. Wir werden durch KI in eine Welt reinkommen, wo solche Tätigkeiten signifikant an Bedeutung gewinnen. Die Programmierer werden vielleicht ein hartes Brot haben, aber die Innovations-, Pflege- und Sozialarbeiter überhaupt nicht. Die Frage ist nur, ob sich die Gesellschaft rechtzeitig darauf einstellt.

Und wie sehen deine persönlichen Pläne aus?

Thomas Sattelberger: Ich bin ein politisches Tier. Wenn es aus dem Zentrum heraus eine neue Plattform gäbe, würde ich nach Berlin zurückgehen. Ich bin bald 75, aber fühle mich geistig wie 50. Ich bin voller Kraft und habe Lust. Und das Politiksystem braucht Disruption. Das ist meine tiefe Erkenntnis aus meinen sechs Jahren Politik. Das alte System ist in sich nicht reformfähig. Ob diese Disruption zum Guten wird, ist allerdings eine andere Frage…

Das Buch Radikal neu: Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft von Thomas Sattelberger ist am 9. Oktober 2023 im Herder-Verlag erschienen.

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Dieses Bild höre ich in kurzer Zeit zum wiederholten Male. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands, haben sich die „Deutschen“ wohl auch in die Vorstellung verliebt man kann mit Russland eine große ehrliche Beziehung aufbauen, trotz der vielen direkten Anzeichen und Warnungen von Partnern, waren wir auf 2 Augen blind.

Keine Ahnung was es auf sich hat mit dieser „Liebe“ auf gesellschaftlicher Ebene, es scheint mir aber ein eher typisch deutsches Phänomen zu sein, dass wir uns sehr lange im Altbewehrten aus irrationalen Beweggründen verhaften…

Bräuchte es nicht ein institutionelles Korrektiv, das eher neutral auch „adverse“ Szenarien entwickelt, gegen die man nüchtern Risk-Management als Staat betreibt und vernünftiges Policy Making betreibt?

Naja ihr Blick auf die „Liebeskraft“ der Deutschen lieber Herr @t.sattelberger würde mich schons ehr interessieren :slight_smile: Vielleicht kann man das jetzt auch nutzen…

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Wir sind eine haptische Gesellschaft, müssen etwas zum anfassen haben. Alles andere ist Metaphyse und wird kritisch beäugt oder gar attackiert. und wir waren neben den Briten I mit der Maschine und dann gegen die Briten erfolgreicher mit der Maschine. Effizienteste Massenproduktion können wir, kreative Werkstatt dagegen nicht mehr. Und so sind wir in die spät Römische Dekadenz entglitten. Auch die Liebes Kraft wird es nicht mehr richten.

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Natürlich wäre ein kontroverses Beratungsgremium wie damals die Harzkommission überfällig. Ein Gremium, das sich zu mindestens auch den worst Case vorstellen kann und dementsprechend Vorschläge macht

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der Worst Case trifft nämlich leider viel zu häufig zu und wird meist (politisch) gerne als irrelevant in die Ecke abgestellt, so dass man noch nicht mal gedanklich darauf vorbereitet ist… Ein weiteres fatales und kurzsichtiges Beispiel ist der Umgang mit den Biometriedaten in Afghanistan, wo nun beliebig die lokalen Helfer identifiziert werden können. War recht sprachlos nach dem Podcast vom BR: https://interaktiv.br.de/biometrie-afghanistan/

hierzu eine Interessante übersicht, auch historisch, zum Beamtentum in Deutschland und aktuellen Tendenzen, und Versuchen diesen Wust einzudämmen: https://www.deutschlandfunk.de/nicht-abschaffen-aber-reformieren-100.html

Gerade in der Verwaltung sollte doch KI und stärkere Digitalisierung es ermöglichen erhebliche Effizienzgewinne zu heben und gleichzeitig einen massiv besseren Service anzubieten…