Stray: Eine kleine Katze im Cyberpunk-Labyrinth

Zahlreiche Videospiele lassen futuristische Cyberpunk-Dystopien erkunden. Gespielt wird dabei fast immer als ein Mensch. Im Videospiel Stray übernimmt der Spieler hingegen die Kontrolle über eine kleine Katze, die aus einer High-Tech-Stadt entkommen muss. Das verspricht eine eigenwillige und faszinierende Perspektive auf eine Zukunftswelt, die ein legendäres Vorbild hat.

Von Michael Förtsch

Flackernde Neonlichter, die sich in Pfützen spiegeln, von Dreck und Müll verkrustete Straßen und jede Menge merkwürdige Apparaturen, die an Gebäuden hängen. Solche Szenerien haben sich zu einem der größten Klischees der Science Fiction entwickelt. Denn so sieht die prototypische Cyberpunk-Metropole aus, wie sie in den 1980ern vom Kultautor William Gibson in seiner Neuromancer -Saga, von Ridley Scott in Blade Runner und Mike Pondsmith mit der Table-Top-Rollenspiel-Serie Cyberpunk erdacht und inszeniert wurde. Eine Welt also, in der mächtige Konzerne die Welt regieren, futuristische High-Tech-Gerätschaften allgegenwärtig sind und viele Menschen in absolutem Elend existieren, da sie von der Gesellschaft und dem Fortschritt zurückgelassen wurden. Wieder und wieder wurden solche Cyberpunk-Welten in den vergangenen Jahren weitergedacht. In Altered Carbon, Mute, Alita: Battle Angel, Blade Runner 2049, Cyberpunk 2077 oder The Ascent.

So verschieden die Geschichten, so granular und prägnant die Unterschiede der Szenerien, die Perspektive auf die Städte und das, was darin passiert, ist immer vergleichbar: Es ist stets die einer mehr oder minder menschlichen Heldenfigur. In Stray soll sich eine solche Stadt endlich aus einem anderen Blickwinkel erkunden lassen. Nämlich aus einem tierischen. In dem Videospiel des kleinen Studios BlueTwelve aus dem französischen Montpellier steht eine Katze im Zentrum der Handlung. Genauer: ein Streuner, der durch einen tragischen Unfall von seiner Familie getrennt wird und in die Straßenschluchten einer futuristischen Metropole stürzt, die jedoch nicht so klischeehaft ausfällt, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Denn sie entspringt der Realität – ebenso wie der schurrende Heroe.

„Einen Namen hat der kleine Kater nicht“, sagt Swann Martin-Raget von BlueTwelve über den unscheinbaren Helden der Geschichte gegenüber 1E9. „[Aber] er basiert auf einem echten Streuner, Murtaugh, eine der Katzen unserer zwei Gründer.“ Vor sieben Jahren hatten sie die Katze unweit von Montpellier aufgelesen – und seitdem sei er Teil ihrer Familie und auch des Studios. Tatsächlich ist die Katze sogar so etwas wie ein Gründungsmitglied des französischen Spielermachers. Denn die Entwicklung von Stray begann bereits im Jahr 2015. Zu diesem Zeitpunk trug das Videospiel noch den ominösen Namen HK_Project.

Für die beiden Studiogründer, das Künstlerduo Koola und Viv, war das Videospiel zunächst genau das: ein Projekt ohne wirklich sicheren Ausgang. Obwohl sie bereits an einigen Videospielen des Publishers Ubisoft mitgewirkt hatten, waren sie Amateure, was die Entwicklung angeht. Daher verstanden sie HK_Project zuvorderst als einen Exkurs mit dem Videospielgrafikmotor Unreal Engine, der es ihnen erlauben sollte, eine ihrer großen Obsessionen zu erforschen und zum Leben zu erwecken. Und zwar einen so erschreckenden wie anziehenden Ort, der bereits vor 30 Jahren zerstört wurde: die Kowloon Walled City, die Stadt der Dunkelheit.

Ein Ameisenhaufen

Die Kowloon Walled City war eine auf dem Gelände eines ehemaligen Militärstützpunkts errichtete Siedlung nahe dem bis 1997 unter britischer Obhut stehendem Hong Kong. Vor allem zahlreiche Flüchtlinge aus China und Gesetzlose begannen auf dem weniger als 0,03 Quadratkilometer großem Gebiet zu bauen. Binnen weniger Jahre wuchs dort ein Moloch aus bis zu 15 Stockwerke umfassenden und ineinander verflochtenen Gebäuden in die Höhe. Wohnungen, Geschäfte, Fabriken, Bordelle und Handwerksstuben waren dicht an dicht aneinandergepresst. Nichts davon war genehmigt. Jegliche Bau-, Brandschutz- und Hygienevorschriften wurden ignoriert.

Kabel verliefen in ungesicherten Strängen an Böden und Decken. Durch die Stadt führte ein Labyrinth aus schmalen Gängen, die zu Teilen gerade einmal schulterbreit waren und nur von schummrigen Neonröhren und alten Glühlampen erhellt wurden. Abwasser floss durch alte Schläuche, undichte Rohre und offen liegende Rinnen vor den Türen entlang. Eingegriffen wurde nicht. Denn die rechtliche Lage der Stadt war lange ungeklärt. Die Behörden von Hong Kong fühlten sich für die Siedlung nicht zuständig, die zu ihren Hochzeiten zwischen 30.000 und 50.000 Einwohner beherbergte – und auch Hunderte von Katzen, die Ratten und Mäuse im Schach halten sollten.

Auch die Polizei mied die Kowloon Wallet City. Verbrechen wurden dort nur in Ausnahmefällen verfolgt. Steuern wurden nicht eingetrieben. In der kompakten Siedlung herrschten eigene Regeln und Gesetze – ebenso wie ein in Teilen in sich geschlossenes Ökosystem. Der „menschliche Ameisenhaufen“, wie die Stadt immer wieder bezeichnet wurde, wurde zum Mythos, der Autoren wie den Science-Fiction-Autor William Gibson inspirierte und als Kulisse für Filme wie Bloodsport diente. Aber in den 1980ern wurde letztlich beschlossen, die unregulierte Siedlung aufgrund der katastrophalen Lebensumstände und sich mehrender Unfälle zu räumen und abzureißen. Der Rückbau begann dann im März 1993 und dauerte über ein Jahr.

Spielplatz für Katzen

Wo sich die Kowloon Walled City einst befand, steht heute ein kleiner Park, in dem eine Metallrekonstruktion auf einem Podest an die einstige Siedlung erinnert. „Als Künstler waren sie von diesem Ort stets fasziniert, den es heute nicht mehr gibt“, sagt Swann Martin-Raget über die Gründer des Studios BlueTwelve. „Jedes Mal, wenn sie sich Referenzen von diesem Ort sahen, waren sie wie gefangen und inspiriert von dieser einzigartigen Umgebung, in der die Konstruktionen aufgrund der hohen Dichte an Details und Feinheiten fast organisch wirken.“ Daher haben sie einzelne Gassen und Ansichten von Fotos nachgestellt – und sich letztlich entschlossen, die Stadt wieder auferstehen zu lasen. Oder zumindest deren einzigartige Atmosphäre – und zwar als eine dystopische High-Tech-Metropole.

Als das Künstlerduo damit begann, habe es erkannt, dass diese Szenerie aber noch auf ganz anderer Weise besonders ist. „Sie realisierten, dass all diese engen Passagen, die schmalen Durchgänge und Vorsprünge ein idealer Spielplatz für eine Katze wären“, meint Martin-Raget. „In diesem Moment begann das Projekt in ihren Köpfen wirklich Gestalt anzunehmen.“ Ein Videospiel, in dem eine Katze durch eine endlos scheinende und bizarre Welt gelenkt wird, die von Menschen geschaffen wurde, aber dennoch auch irgendwie ein eigener Charakter ist, sollte HK_Project werden. Das war der Plan.

Die ersten Konzepte und Umgebungen entstanden binnen weniger Wochen. Und immer wieder teilte das ursprüngliche Duo und dann das auf derzeit 18 Personen angewachsene Team einzelne Bilder und kurze Videoschnipsel aus dem Projekt, das sich über die Jahre aber auch immer wieder leicht wandelte. „Da wir ein kleines Team sind, mussten wir wählen, welche Kämpfe wir schlagen“, sagt der Produzent. „Ich denke, eine der größten, aber auch vorteilhaftesten Änderungen war der Wechsel von einer offenen Spielwelt im Stil eines Metroid -Vania hin zu einer lineareren Struktur.“

Und diese Struktur soll weniger eine traditionelle Geschichte erzählen, als vielmehr eine Erfahrung darstellen. Denn nachdem sich die kleine Katze nach ihrem tiefen Sturz aufgerafft und Hilfe für ihr verletztes Pfötchen bekommen hat, beginnt sie mit dem Spieler am Controller die surreale cybercity zu erkunden, um einen Weg zurück zu finden. Die Untergrundwelt lässt mit den schmalen Gassen, den verschachtelten Gebäudeteilen und den glimmenden Neonlichtern definitiv das Vorbild erkennen. Und den Spielplatz für Katzen, den die Entwickler darin sahen.

Über Müllkübel, Klimaanlagen und Rohre streift die Katze in die Höhe. Über schmale Balustraden geht es von einem Gebäudekomplex zum nächsten. Mit eleganten Sprüngen von Fass zu Fass werden toxische Abwassergruben überquert. Oder es wird ein Ventilator zum Stillstand gebracht, indem ein Eimer in einen Propeller fallen gelassen wird. Viele Wege sollen vorherbestimmt sein. Aber in einigen Momenten soll der Spieler auch freie Hand haben, wie er Situationen begegnet. Und natürlich soll er dann und wann auch ganz Katze sein können. Es sollen sich leere Flaschen von Balkons, Fernbedienungen von Tischen schubsen lassen. Der Kater darf genüsslich eine Ledercouch zerkratzen und auf einem alten Kissen ein Nickerchen machen.

Fliegender Freund

Auf ihrer Mission ist die Katze nicht allzu lange allein. Bereits früh im Spiel tut sie einen kleinen Roboterhelfer auf, B-12, der, wenn er nicht in der Luft herumsurrt, in einem kleinen Rucksack auf dem Katzenrücken lebt. Er macht Licht, wenn es später durch die düsteren Eingeweide der Stadt geht, die von fasrigen Pflanzen überwuchert sind, und schützt mit einem UV-Strahl vor aggressiven Zeckenkäfern, die der kleinen Katze nicht gerade wohlgesonnen sind. „Aber zuvorderst ist er in der Lage, die Sprache der Roboter zu übersetzen, die die Stadt bewohnen“, so Martin-Raget. „Und er wird eine entscheidende Hilfe dabei sein, zu verstehen, was dieser Ort eigentlich ist und was geschah.“

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Bevölkert ist die versiffte Metropole nämlich nicht von Menschen, sondern von humanoiden Robotern, deren Köpfe an den ersten Macintosh-Computer denken lassen. Die Roboter als Figuren seien ursprünglich einer „Limitierung unserer Entwicklungsfähigkeit“ zu verdanken gewesen, wie Martin-Raget vom Entwicklungsstudio sagt. Es wäre zu aufwendig gewesen, zahlreiche verschiedene Menschen zu gestalten. Daher habe sich das Team entschlossen, einfach in ihren Grundzügen immer gleiche Roboter zu nutzen und damit die Szenerien zu besetzen. Daraus habe sich im Laufe der Zeit ein essentieller Teil der Geschichte und Atmosphäre von Stray ergeben. Die flauschige und lebhafte Katze und die metallenen und kantigen Roboter, „erzeugen einen interessanten Kontrast“, sagt Martin-Raget.

Aber vor allem ergibt sich die Frage: Wo sind all die Menschen hin? „Das ist eines der großen Mysterien, die es zu lösen gilt“, so der Produzent. Viele der Hinweise darauf sollen sich in den Umgebungen finden lassen. Bereits früh im Spiel ist ein Graffiti mit den Worten „RIP Humans“ und einem Herz dahinter zu erspähen. Ein großes LED-Werbeschild bewirbt die cybercity als die „sicherste Stadt der Welt“. An manchen Ecken und Enden lassen sich Worte wie „lauft“ und „flieht“ erspähen, die mit schnellen Pinselbewegungen gemalt wurden. Und überall in der Stadt sind die Hinterlassenschaften einer offenbar ehemaligen menschlichen Bevölkerung verstreut. Aber das sind Fragen und Indizien, die die Katze wohl eher nicht bewegen, wie Martin-Raget versichert. Sie will nur nach Hause. Für den kleinen Kater ist die Stadt ein abenteuerliches Labyrinth, aus dem es zu entkommen gilt.

Stray erscheint am 19. Juli für PC, PlayStation 4 und PlayStation 5.

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