Künstliche Intelligenz, Simulationshypothese, ethische Fragen um die Rechte von Maschinen – und das alles eingepackt in eine rasante, unterhaltsame Handlung. Der Roman LEXI.exe von Swan Collective, einem fünfköpfigen, aber dennoch nur aus einer Person bestehenden Künstlerkollektiv, erscheint genau zur richtigen Zeit. Obwohl er eigentlich schon ein paar Jahre alt ist.
Von Wolfgang Kerler
Auf den ersten Seiten wirkt noch alles normal. Die Künstlerin Lexi fährt über die längste Brücke der Welt, im Radio läuft Eyes Without A Face. Da kommt ihr ein Fahrzeug entgegen. Viel zu schnell, Fernlicht an. „Was für ein Idiot!“ Im Gedanken formuliert sie einen Instagram-Post über die Szene.
Wer nicht genau liest, geht vermutlich noch davon aus, dass LEXI.exe in unserer Realität spielt. Wären da nicht erste Hinweise. Lexi soll im „Husback Museum“ ausstellen. Nie gehört. Die Brücke verbindet „Skårland“ und „Vilsgrund“. Fiktive Orte. Trotzdem dauert es mehrere Kapitel, bis sich die Welt, die Swan Collective alias Felix Kraus für seinen Roman erschaffen hat, erschließt. Und spätestens dann beginnen die Zweifel an unserer Wirklichkeit…
Was heißt schon Wirklichkeit?
„Ein roter Faden meiner Arbeit ist das Wechselspiel zwischen Realität und Virtualität“, sagt Felix Kraus im Interview mit 1E9. „Die Realität zwischen den Fingern zerrinnen sehen. Wo bin ich? Was passiert hier eigentlich? Wache ich gleich auf? Da will ich hin.“ Schon beim Gespräch mit ihm rätselt man: Ist das jetzt der echte Felix? Oder eines seiner Alter Egos? Denn hinter seinem Künstlernamen Swan Collective verstecken sich fünf Versionen des Berliner Künstlers.
Bereits im Studium in München wurde ihm dazu geraten, sich eine Schublade auszusuchen. Das steigere den künftigen Marktwert. Doch er wollte nicht nur Maler oder nur 3D-Künstler sein, also verwandelte er sich in ein Kollektiv. „Für mich ist das ein künstlerischer Life Hack, um mir sämtliche Freiheiten offenzuhalten und auf unsere schnelllebige Welt reagieren zu können.“ In seinen Arbeiten verbindet er Malerei mit Virtual Reality, Augmented Reality mit Games. Mit LEXI.exe hat er nun erstmals einen Roman veröffentlicht.
Auch darin spielt er mit unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Vor allem aber greift er die großen, kaum beantwortbaren Fragen auf, die sich angesichts der Fortschritte von Künstlicher Intelligenz und Robotern stellen. Ab wann sind Maschinen tatsächlich intelligent? Können sie ein Bewusstsein haben? Braucht es dafür einen biologischen Körper? Sind wir selbst nur eine riesige Simulation?
Achtung, ab hier enthält der Artikel Spoiler!
Die simulierte Hauptfigur und ihr intensives Leben
Der Roman begleitet Lexi van Dijk, eine Performance-Künstlerin deren Arbeiten kaum als subtil durchgehen. Bedeutungsschwanger bewegt sie sich bei ihren Auftritten zwischen deformierten Puppen, Tierknochen, Draht und Kunstblut. In einem Schlüsselmoment performt sie nackt in der Luft, hängt an einem Seil, das an einer Museumsdecke befestigt ist. Doch etwas geht schief. Lexi und ein Social-Media-Influencer werden schwer verletzt. Lexi stürzt in eine Sinnkrise.
Will und kann sie noch Künstlerin sein? Wird der Influencer ihr je verzeihen? Sie bricht alle Kontakte ab, zieht in einen verlassenen Hof, kämpft mit inneren Konflikten und Einsamkeit. Doch sie ist nicht allein. Der zweite Protagonist Sol verfolgt auf seinen Bildschirmen alles, was sie tut. Er verliebt sich in Lexi, ohne dass sie von seiner Gegenwart weiß. Wie auch? Lexi existiert nur als Teil einer gigantischen Computersimulation, entwickelt vom Unternehmen Intelligencia, Sols Arbeitgeber. Als Analyst für den Kunst- und Kultursektor der Simulation wurde er auf Lexi aufmerksam.
Irgendwann setzen sich die Puzzleteile des Romans zusammen: Intelligencia hat per Künstlicher Intelligenz eine Simulation des Universums gestartet, die im Zeitraffer die Entwicklung der Realität, also von Sols Welt, nachverfolgt. Sie kommt dieser erstaunlich nahe, abgesehen davon, dass es in der echten Welt weder unterschiedliche Hautfarben noch Social Media gibt. Unsere Welt – die, in der du gerade diesen Artikel liest – ähnelt also eher der Simulation im Roman. Wer den Filmklasser Welt am Draht von Rainer Werner Fassbinder kennt, kann sich das Setting von LEXI.exe gut vorstellen.
Zeitlich hängt die Simulation, in der Lexi lebt, Sols Gegenwart noch um rund 70 Jahre hinterher. Das soll sich schnell ändern, die Simulation soll beschleunigt werden. Denn zum Business Case kann das Programm erst werden, wenn die virtuelle Welt mit der Realität gleichgezogen hat. Dann kann Intelligencia damit gesellschaftlich relevante Analysen durchführen. Gegen Bezahlung versteht sich.
Doch die Simulation ist fast zu gut. Für Sol lebt Lexi, obwohl er weiß, dass sie nur in der Cloud existiert. Zumal Lexi viel intensiver, körperlicher fühlt als er. Verletzungen, Verdauung, Sex – für Lexi gehört das zum Leben dazu. Sol dagegen fremdelt mit seinem eigenen Körper aus Fleisch und Blut. Für Lexi vernachlässigt er seine Mitmenschen.
Mit jeder Seite nimmt die Vielschichtigkeit der Handlung zu – und sie nimmt an Fahrt auf. Sol versucht irgendwann, in Lexis Leben einzugreifen, sie zu warnen, zu retten. Für sie entstehen dadurch Glitches, also Fehler in der Simulation, die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen.
Auch Sols robotische Haushaltshilfe (und Sex-Dienstleistern), die Humanoide EL, spielt noch eine Rolle. Sie wäre gerne menschlicher und schwärmt für eine Roboter-Aktivistin. Sols Chefin Yul, die keinerlei Empathie für die virtuellen Menschen in ihrer Simulation entwickeln will, wird ebenfalls zu einer entscheidenden Figur.
Ein Roman für die ChatGPT-Ära, der schon vorher geschrieben wurde
LEXI.exe wirkt wie der perfekte Roman, um den KI-Hype seit ChatGPT zu kommentieren. Geschrieben hat ihn Felix Kraus allerdings schon voher, nämlich Ende 2020, Anfang 2021. Nur dauerte es danach, einen Verlag zu finden. „Es war interessant zu beobachten, dass manche Aspekte des Buches fast schon überholt wurden“, sagt der Autor.
Im Roman kostet es Sol noch Programmieraufwand, um seinem humanoiden Roboter die Stimme von Lexi zu verleihen. „Heute reichen dafür ein paar Sekunden Aufnahme und [der KI-Stimmgenerator von] Eleven Labs.“ Dass die Handlung wegen der rasanten KI-Entwicklung weniger futuristisch wirkt, stört Felix Kraus aber nicht. „Im Prinzip wird dadurch umso mehr das Hier und Jetzt behandelt.“
Wahrscheinlich wäre die Geschichte auch eine andere geworden, hätte er LEXI.exe nach ChatGPT geschrieben. Denn während Künstliche Intelligenz im Buch nicht als übermenschlich und bedrohlich erscheint – im Gegenteil, die simulierte Lexi und die Humanoide EL sind die eigentlichen Sympathieträgerinnen –, hatte Felix Kraus spätestens nach dem Erscheinen von GPT-4 von OpenAI eine „darke Phase“.
„Ich dachte: Shit, die Menschheit ist bald abgehängt. Ich habe echt wenig Hoffnung gesehen, dass das nicht katastrophal endet.“ Inzwischen sieht er die Entwicklung wieder gelassener, rechnet nicht mehr mit exponentiellen Fortschritten bei KI. „Es gibt schließlich kein Perpetuum Mobile. Man kann nicht mehr rauskriegen, als man reinsteckt – und man steckt fehlerhafte menschliche Daten rein. Ich versuche mir also gerade schönzureden, dass wir als Menschheit noch ein bisschen mitspielen dürfen.“
Zumal er durch die neuen KI-Modelle einen Moment erleben konnte, den Sol und das Team von Intelligencia im Roman durchlaufen. Er lud sein Manuskript, über 300 Seiten PDF, im KI-Chatbot Claude 3.5 hoch, um sich mit der KI darüber zu unterhalten. „Und das war für mich ein Gänsehautmoment, in dem ich dachte: Da passiert Verständnis. Da ist ein tiefgreifendes Verständnis dafür, was ich mir als Autor gedacht habe.“
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Das Gehirn als perfekte „Weltsimulationsmaschine“
Zu den Stärken des Romans gehört, dass die darin skizzierte Zukunft anders als viele Science-Fiction-Werke, die ähnliche Themen verhandeln, nicht dystopisch ausfällt. Gefährliche Roboter oder KIs, übermächtige Globalkonzerne, verwüstete Einöden – darauf verzichtet Felix Kraus. Auch in der Welt des Programmierers Sol bleiben Menschen mit ihren Stärken und Schwächen für den Lauf der Welt verantwortlich.
Unsere Selbstgewissheit und die menschliche Hybris, anderen – „niederen“ – Formen von Intelligenz das Bewusstsein abzusprechen, soll LEXI.exe aber durchaus etwas erschüttern. „Wir als scheinbar reale Menschen haben das Gefühl, die Realität ist biologisch verankert. Virtuellen Systemen, die körperlos sind, sprechen wir eine Existenz dagegen ab“, sagt Felix Kraus. „Aber was ist, wenn wir doch nur Gehirne in einem Tank sind? Unsere Gehirne können schließlich alle menschlichen Sinneswahrnehmungen zu 100 Prozent simulieren – bis zum 100-stimmigen Chor in 8K. Das wissen wir aus luziden Träumen.“
Und die Möglichkeit, dass wir nur in einer Computersimulation existieren, die gebe es natürlich auch noch. Ganz sicher sein können wir uns also nicht…
Bilder des Buchs: Shift Books
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