Gehört die Zukunft von Social Media nicht Meta, X oder TikTok, sondern dezentralen Alternativen wie Mastodon, PixelFed und anderen, die es noch gar nicht gibt? Davon ist jedenfalls der Internet-Pionier Mike McCue überzeugt. In den 1990er-Jahren gestaltete er die Grundlagen des World Wide Web mit. Im Web 2.0 startete er das erfolgreiche Social Magazine Flipboard, das bis heute von Millionen genutzt wird. Nun setzt er voll aufs Fediverse – und hat trotzdem nette Worte für Big-Tech-Player wie Microsoft und Meta übrig.
Ein Interview von Wolfgang Kerler
Mike McCue, geboren 1968, gehört zu den Veteranen des World Wide Web. Nach seinem Berufseinstieg bei IBM in den 1980ern gründete er seine erste Firma Paper Software. Mit einem Programm, das es frühen Internetbrowsern erlaubte, 3D-Grafiken darzustellen, wurde das Start-up so erfolgreich, das es 1996 für 20 Millionen Dollar von Netscape geschluckt wurde. Dort wurde Mike zum Vice President of Technology und arbeitete unter anderem am legendären Browser Netscape Navigator mit.
1999 verließ er das Unternehmen, gründete mit Tellme Networks eine weitere Firma, um sie 2007 für angeblich 800 Millionen Dollar an Microsoft zu verkaufen. Beim Windows-Konzern blieb er allerdings nicht lange, denn schon im Januar 2010 gründete er das Unternehmen, dessen Chef er bis heute ist: Flipboard, ein populärer News-Aggregator.
Anfangs als iPad-App, später auch auf anderen Plattformen und im Web verfügbar erlaubt Flipboard seinen Nutzerinnen und Nutzern, verschiedenen Quellen wie Webseiten, soziale Netzwerke oder RSS-Feeds zu aggregieren. Präsentiert werden diese individuellen Magazine, die öffentlich geteilt werden können, in einem schicken Layout. Nun will Mike Flipboard mit seinen vielen Millionen Usern ins Fediverse bringen.
1E9: Seit 2010 hat Flipboard Millionen von Userinnen und Usern gewonnen. Man könnte deine Firma eine Erfolgsgeschichte des Web 2.0 nennen – niemand wäre also überrascht, wenn du mit dem Status Quo zufrieden bist. Trotzdem bist du einer der prominentesten Fürsprecher des Fediverse. Warum? Was läuft falsch im Web und in den sozialen Medien?
Mike McCue: Die Entwicklung von Social Media in den vergangenen Jahren hat dazu geführt, dass sich die meisten Menschen online nur noch zwischen verschiedenen Walled Gardens, also in sich geschlossenen Systemen, entscheiden können. Das erinnert mich an die Tage von AOL vor dem World Wide Web.
AOL war okay, bot jedoch nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten. Man konnte zwar Flugtickets kaufen, aber Hotels vergleichen, die schönsten Reiseziele finden oder Ferienwohnungen über Dienste wie AirBnB buchen, ging nicht. Diese Möglichkeiten kamen erst mit dem Web, denn AOL war ein Walled Garden. Dort gab es nur die Innovationen, die sich AOL leisten und mit seinem Personal umsetzen konnte. Erst das offene World Wide Web hat diese Walled Gardens aufgebrochen – basierend auf HTML und HTTP, auf simplen Standards und Protokollen. Das ermöglichte all die Innovationen, die wir heute kennen, schuf Werte in der Größenordnung von Billionen von Dollar und unzählige Firmen.
Mitte der 1990er-Jahre, noch vor Flipboard, hatte ich eine Firma namens Paper Software, die dann von Netscape gekauft wurde. So kam ich in der Zeit zwischen 1995 und 1996 zu Netscape und half dem Team, das World Wide Web aufzubauen. In vielerlei Hinsicht haben wir dort unglaublich gute Arbeit geleistet. Doch in vielerlei Hinsicht blieb diese Arbeit auch unvollendet.
Wie meinst du das?
Mike McCue: E-Mails konnte man früher nur an Leute schicken, die auch bei AOL oder CompuServe waren, nicht von AOL zu CompuServe. Genauso ist es heute mit Social Media. Jemand bei Facebook kann jemandem bei Twitter nicht schreiben und ihm auch nicht folgen. Die sozialen Netzwerke sind Walled Gardens, was Innovationen verhindert. Außerdem müssen Leute, die sich eine Präsenz bei einer Social-Media-Plattform aufbauen, nach deren Regeln spielen. Doch diese Regeln ändern sich ständig. Wenn Elon Musk den Algorithmus von Twitter ummodelt, kann dein Traffic sinken – oder deine Inhalte sind plötzlich umgeben von Hate Speech.
Doch es gibt einen neuen W3C-Standard namens ActivityPub, der im Wesentlichen analog zu HTTP in den frühen Tagen des Web funktioniert. Er wird die Walled Gardens öffnen und Innovation und Interoperabilität in einem großen Social Web ermöglichen. In diesem wird man sich eine Präsenz aufbauen können, die nicht den Launen der Milliardäre unterworfen ist, die heute ihre Walled Gardens kontrollieren. Ganz ähnlich wie beim Übergang von AOL zum Web.
Genau das meine ich auch, wenn ich heute sage, dass unsere Arbeit bei Netscape unvollendet blieb: Ich wünschte, wir hätten schon damals ein Standardprotokoll wie ActivityPub erdacht, über das sich Menschen miteinander vernetzen können.
In einem Interview mit The Verge hast du ActivityPub als „die größte Chance, die ich für das Web seit den Anfängen des Web gesehen habe“, bezeichnet. Das klingt ziemlich überzeugt. Doch bevor wir darüber sprechen, erkläre uns, was du unter Social Web beziehungsweise dem Fediverse verstehst?
Mike McCue: Momentan nutzen die Menschen den Begriff Fediverse, um Dienste wie Mastodon, PixelFed oder PeerTube zusammenzufassen. Das sind Dienste, die wie Twitter, Instagram oder YouTube funktionieren, aber auf ActivityPub basieren. Zu diesen wird eine Welle völlig neuer Dienste dazukommen.
Genau wie heute alle HTML-Websites miteinander verbunden werden können, weil sie auf denselben Standards und Protokollen aufbauen, werden all diese neuen Social-Media-Dienste interoperabel sein, weil sie auf ActivityPub aufbauen. ActivityPub ermöglicht dabei Verbindungen von Person zu Person, aber auch von Person zu Account.
Noch wird diese interoperable Kombination Fediverse genannt. Doch ich glaube, am Ende werden die Leute vom Social Web sprechen, weil es wirklich um die soziale Schicht des World Wide Web geht. Und die ist die größte Veränderung des Web seit dem Web selbst.
Zoomen wir auf die individuellen Userinnen und User. Warum sollte das Fediverse bzw. das Social Web für sie eine Verbesserung darstellen?
Mike McCue: Wenn du an die Zeit denkst, die du online verbringst, spielen Verbindungen mit anderen Menschen eine extrem wichtige Rolle, richtig? Du schreibst jemandem eine Message, du siehst Dinge, die andere Leute geteilt haben – Leute, die du kennst, oder Leute, die du nicht kennst, aber die du respektierst und deren Meinung du hören möchtest. All diese Verbindungen manifestieren sich heute nur in Walled Gardens wie Reddit, Twitter, Facebook, Instagram, YouTube, genau wie die Followerschaft, die sich Creator durch ihre Inhalte aufbauen. ActivityPub adressiert dieses Problem und befreit all diese Verbindungen aus den Walled Gardens.
Ich kann im Fediverse Verbindungen über verschiedene Dienste hinweg aufbauen – von Mastodon zu PixelFed, von PixelFed zu PeerTube und so weiter. Und ich kann all diese Verbindungen bzw. Follower von einem zum anderen Dienst mitnehmen, weil es keine Walled Gardens sind. Wird das Fediverse auch andere Probleme mit den heutigen Plattformen beheben, zum Beispiel, dass sie ihre User tracken und mit personalisierter Werbung verfolgen?
Mike McCue: Das Fediverse gibt Firmen die Möglichkeit, ihre digitalen Geschäftsmodelle grundlegend zu überdenken. Denn durch ActivityPub wird der wichtigste Aspekt jedes guten Geschäftsmodells um digitale Inhalte die direkte Verbindung mit der eigenen Audience. Postest du neue Inhalte, sehen sie diese. Du musst dich nicht auf Google oder Meta verlassen.
Wer nicht mehr auf Suchmaschinenoptimierung oder Clickbait setzt, sondern eine echte Verbindung mit seinem Publikum aufbaut, kann diese monetarisieren: über Mitgliedschaften, Abonnements, Premium-Inhalte, Events, aber auch Werbung. Nur wird diese Werbung viel durchdachter und respektvoller sein. Sie wird zum eigenen Content und dem Interesse des Publikums passen. Doch sie wird niemanden tracken und verfolgen wie beim heutigen Modell des Programmatic Advertising.
Ihr von 1E9 habt das, nach allem, was ich mir angeschaut habe, erkannt. Ihr fokussiert euch auf eure Community, ihr wisst, wer zu eurem Publikum gehört und ihr habt hart dafür gearbeitet, dass die Leute immer wieder zu euren Inhalten zurückkommen.
Nur wer seine Audience nicht kennt, weil er keine Verbindung zu ihr aufgebaut hat, ist gezwungen auf Geschäftsmodelle zu setzen, die für Userinnen und User störend sind und ihre Privatsphäre verletzen. ActivityPub könnte daher zu einem gesünderem Ökosystem für alle führen: User, Creator, Publisher.
Sprechen wir endlich über Flipboard. Viele kennen euch, aber nur um sicherzugehen: Was ist Flipboard?
Mike McCue: Flipboard ist ein Social Magazine. 2010 war die Idee hinter Flipboard, die Inhalte aus den verschiedenen sozialen Netzwerken in einer Experience zusammenzufassen, die an ein schönes Magazin erinnert.
Inzwischen ist Flipboard zu einem Ort geworden, an dem Menschen eigene Magazine zu Themen, die sie interessieren, kuratieren können. Das heißt, sie selektieren Artikel, Videos und Podcasts und fassen diese in Magazinen und Storyboards zusammen, denen man folgen kann – zu Themen wie Kochen, Reisen, Büchern oder auch Firmengründung. Auch Publisher teilen ihre Inhalte bei Flipboard. Jetzt schauen wir auf das Social Web und erkennen darin eine Möglichkeit, diese kuratierten Inhalte an viel mehr Menschen zu bringen, ob sie nun Flipboard nutzen oder nicht.
Wer irgendeine Form von Social-Media-Experience aufbaut, sollte das auf ActivityPub tun.
Vergangenes Jahr habt ihr angekündigt, Flipboard ins Fediverse zu bringen. Was hat dafür den Ausschlag gegeben?
Mike McCue: Der Hauptgrund dafür ist, dass ich das Web der 90er-Jahre gesehen habe. Ich weiß daher einfach, dass das die Zukunft des Webs ist. Wer irgendeine Form von Social-Media-Experience aufbaut, sollte das auf ActivityPub tun.
Wir haben Flipboard als Social Magazine gestartet, in dem man Twitter, Facebook, LinkedIn und Instagram miteinander verbinden konnte. Das Problem war nur, dass ab 2011 erst Instagram und dann Facebook ihre API-Schnittstellen abgeschaltet haben. Twitter verlangt seit Kurzem so viel Geld dafür, dass sie das praktisch auch getan haben. Und Reddit hat seine API ebenfalls stillgelegt. Die Walled Gardens haben ihre Mauern noch höher gezogen.
Wenn wir auf ActivityPub umsteigen, können wir uns als Social-Curation-Plattform direkt ins Fediverse integrieren. Das bringt die Möglichkeit zurück, das Beste von allem zu sehen, was jemand bei Mastodon, PixelFed und zukünftig auch Threads postet. All das lässt sich dann mit Flipboard in Magazinen kuratieren, denen andere Leute folgen können. Das ist der eine Vorteil.
Der andere Vorteil ist, dass anders als bisher nicht mehr nur die, die selbst Flipboard nutzen, sehen können, was Menschen bei Flipboard teilen. Im Social Web wird man den Magazinen auch über Mastodon, Threads und andere Dienste folgen können, ganz ohne Flipboard-Account. So können alle im Social Web von der Arbeit unserer Kuratorinnen und Kuratoren profitieren.
Ihr habt mit eurer Federation – auf Deutsch würde man vielleicht Föderalisierung sagen – schon begonnen. Könntest du uns einen Einblick in euren Zeitplan geben?
Mike McCue: Klar. Im Dezember haben wir unsere Roadmap mit drei Phasen vorgestellt. In der ersten haben wir Ende Dezember ungefähr 40 Flipboard-Accounts von Publishern über ActivityPub ins Fediverse integriert. Diesen Accounts kann man jetzt über Mastodon und andere Dienste folgen.
Jetzt im Januar läuft Phase zwei. In dieser bringen wir die Accounts all unserer Kuratorinnen und Kuratoren ins Fediverse. Aktuell sind das etwa eine Viertelmillionen Menschen. In Phase drei, vermutlich im März, werden wir dann allen Userinnen und Usern die Möglichkeit geben, Accounts im Fediverse zu folgen, egal ob auf Mastodon, Threads oder woanders. Mit einem Flipboard-Account wirst du dann zum Bürger erster Klasse des Social Web.
Die ersten Publisher sind also schon via Flipboard im Fediverse gelandet. Wie waren die Reaktionen?
Mike McCue: Fantastisch, die Leute sind begeistert. Die meisten Publisher, die wir ins Fediverse gebracht haben, wussten vorher nichts darüber: ,Was ist das?‘, meinten sie. Und wir haben nur gesagt: ,Hey, mehr Leute werden euren Content entdecken können‘. Darauf sie: ,Was müssen wir dafür tun?“. Und wir nur: ,Nichts.‘
Das klingt alles gut, aber wie wollt ihr noch Geld verdienen? Wenn ich bald jedem Flipboard-Magazin folgen kann, ohne eure App nutzen zu müssen, weil es über Mastodon und andere Dienste funktioniert, wie wollt ihr Werbung anzeigen? Disruptiert ihr gerade euer Geschäftsmodell?
Mike McCue: Ja, wir disruptieren unser Geschäftsmodell. Aber lieber tun wir das selbst, als dass es jemand anderes tut.
Wie ich vorhin schon erklärt habe, glaube ich, dass hochwertige, respektvolle Werbung, die niemandem trackt und niemandes Privatsphäre verletzt, immer ihren Platz finden wird. Werbung könnte wieder so funktionieren wie früher in Print-Magazinen. Wenn du dir eine Vogue gekauft hast, hast du doch nicht die Anzeigen herausgerissen. Sie waren ein Teil der Experience, hatten Mehrwert, oder? Dieses Konzept wird sich in der digitalen Welt reproduzieren lassen.
Ja, wir disruptieren unser Geschäftsmodell. Aber lieber tun wir das selbst, als dass es jemand anderes tut.
Wir sind also zuversichtlich, dass wir hochwertige kuratierte Feeds zu vielen Themen anbieten werden. Darauf wird sich ein ökonomisches Modell aufbauen lassen, das für Flipboard Umsätze generieren wird, an denen auch unsere Kuratoren, Publisher und Creator teilhaben werden. Grundsätzlich wird Werbung schon deshalb eine Rolle spielen müssen, weil sich nicht alle unzählige Abonnements leisten können.
Beim Fediverse bzw. dem Social Web geht es um Open Source, offene Protokolle und Standards. Wollt ihr diesem Ökosystem auch etwas zurückgeben?
Mike McCue: Das ist unser Ziel, ja. Wir wollen etwas zum Social Web beitragen, zum Beispiel von dem, was wir über die Jahre über Tools zum Kuratieren von Inhalten gelernt haben, durch Menschen, aber auch durch KI. Unser Ziel ist es, solche Tools allen im Fediverse bereitzustellen.
Außerdem leisten wir unseren Beitrag in Form von Source Code, zum Beispiel für Mastodon. Wir haben [den Mastodon-Gründer] Eugen Rochko dabei unterstützt, die Volltextsuche für Mastodon zu entwickeln. Daran haben wir einen unserer Developer Vollzeit arbeiten lassen. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie wir das Ökosystem des Social Web stärken wollen.
Nicht nur Flipboard, auch andere öffnen sich dem Fediverse: WordPress, Tumblr, Medium und auch Meta, das angekündigt hat, Threads ins Fediverse zu bringen. Glaubst du, noch mehr werden folgen? Werden wir vielleicht sogar einen iPhone-Moment des Fediverse erleben?
Mike McCue: Ich glaube, beides wird passieren. Neben WordPress und Tumblr werden sich vermutlich auch Mozilla und Medium noch ernsthafter am Fediverse beteiligen. Und wenn Threads Teil des Fediverse wird, geht es nicht nur um eine riesige Gruppe von Userinnen und Usern, sondern auch um Meta. Das wird viele Unternehmen dazu bringen, ernsthaft über das Fediverse nachzudenken. Vor allem für Firmen, die ihre eigenen Nischen-Social-Networks betreiben, wird es viel mehr Sinn ergeben, auf ActivityPub zu setzen.
Am meisten bin ich aber auf die neuen Dienste gespannt, von denen wir noch gar nichts wissen, zum Beispiel von Start-ups. ActivityPub macht es selbst einzelnen Entwicklerinnen und Entwicklern möglich, einen Social Service zu starten. Wir werden eine ganze Welle innovativer Konzepte erleben – und das Social Web wird exponentiell wachsen. Heute sind dort etwa 20 Millionen Menschen. Irgendwann werden es Milliarden sein. Jede Firma wird dann gezwungen sein, ein Teil davon zu werden. Dieses Jahr wird diese Bewegung anfangen.
Und selbst wenn sich Meta entscheiden sollte, es langsamer anzugehen oder seine Pläne zu pausieren: Der Geist ist schon aus der Flasche und man wird ihn nicht mehr dorthin zurückbekommen.
Doch es bleiben Herausforderungen. Eine davon hast du selbst angesprochen: Meta. Wenn Meta seinen Twitter-Konkurrenten Threads mit etwa 100 Millionen aktiven Userinnen und Usern wirklich ins Fediverse bringt, wird das Unternehmen dort der größte Player sein. Ausgerechnet der Konzern, den viele für die aktuelle Schieflage von Social Media verantwortlich machen.
Mike McCue: Das birgt ein Risiko, keine Frage. Aber es liegt in der Natur offener Standards, dass auch große Player diese Standards übernehmen werden, wenn es ihrem Business hilft. Als ich für Netscape gearbeitet habe, habe ich diesen Film schon einmal gesehen.
Damals hatte Microsoft das Internet eine ganze Weile ignoriert. Doch dann entschied man sich, voll einzusteigen. Am 7. Dezember 1995 kündigte Bill Gates in seiner berühmten Rede an, dass sich alles, was Microsoft zukünftig tut, ums Internet drehen wird. Also setzte Microsoft auf HTTP und baute sogar einen besseren Browser als wir. Das war schlecht für Netscape, aber gut für das Web. Denn plötzlich gab es so viel mehr Menschen, die es nutzten. Und hätten wir nicht den Fehler gemacht, uns nur noch an Microsoft abzuarbeiten, anstatt unsere eigenen Innovationen und User Experiences weiterzuentwickeln, wäre Netscape vielleicht noch heute eine großartige Firma.
Heute ist die Lage ähnlich: Threads und Meta wären für das Fediverse sehr gut. Je mehr Menschen ActivityPub nutzen, desto besser für alle. Bisher bekomme ich vom Threads-Team mit, dass sie es ernst meinen, ein guter Akteur im Fediverse werden wollen und nicht vorhaben, Threads auf die Art zu monetarisieren wie Instagram.
Threads und Meta wären für das Fediverse sehr gut.
Heißt das, Meta wird dort keine eigenen Interessen verfolgen? Natürlich nicht, es ist eine Firma! Sie machen, was gut fürs Geschäft ist. Aber das Schöne am Fediverse ist, dass die Userinnen und User eine Wahl haben. Sollte Meta anfangen, ihre Privatsphäre zu verletzen, können sich die Leute entscheiden, nicht mehr Threads als Zugang zum Fediverse zu nutzen, sondern Mastodon oder Flipboard. Genau wie man von Google Chrome zu Microsoft Edge oder Mozilla Firefox wechseln kann.
Natürlich muss Activity Pub auf Dauer mehr sein als Meta plus ein paar kleine Player. Es wird Gegengewichte brauchen. Flipboard wird hoffentlich eines davon.
Bei der Kritik an Meta geht es auch um die Verbreitung von Hass, Fake News und Moderationsprobleme. X, Reddit oder TikTok sind ebenfalls betroffen. Noch wirkt Mastodon dagegen wie ein freundlicher Ort. Doch wenn irgendwann Hunderte Millionen im Fediverse sind, werden wir dieselben Probleme bekommen, oder?
Mike McCue: Ja, wir werden dieselben Probleme haben – und neue Probleme, an die wir noch gar nicht gedacht haben. Doch der große Unterschied wird sein, wie wir sie managen – nämlich besser. Denn ein Modell der dezentralisierten Moderation ist so viel schlagkräftiger als die zentrale Moderation, die wir heute in den Walled Gardens haben.
Wie du schon gesagt hast, ist Mastodon eine nette Experience. Man stolpert nicht über so viele problematische Personen. Und wenn man es tut und dem Betreiber der Instanz – dem Instance Owner – meldet, dass man beispielsweise bedroht wurde, wird sich dieser meistens sofort darum kümmern. Denn er moderiert selbst. Wahrscheinlich weißt du sogar, wer er ist, und kannst direkt mit ihm sprechen. Bei Twitter oder Instagram würdest du nur eine automatisierte Message bekommen, doch passieren würde vermutlich gar nichts.
Das Fediverse besteht aus Zehntausenden Instanzen, die von Ownern in viele verschiedenen Ländern und Regionen moderiert werden. Für jemanden in Palo Alto ist es schwer, Inhalte, die zum Genozid in Myanmar anstacheln, zu erkennen. Jemand, der in Myanmar eine Instanz des Fediverse betreibt, kann das viel besser einschätzen. Darüber hinaus können alle Betreiberinnen und Betreiber von Instanzen kollaborieren, indem sie untereinander eine Liste der Bad Actors teilen.
Und sollte der Betreiber deiner Fediverse-Instanz sich plötzlich dafür entscheiden, Inhalte von Nazis zu tolerieren, kannst du einfach mit all deinen Connections zu einer anderen Instanz wechseln. Noch ist das etwas umständlich, doch es ist machbar und wird einfacher werden. Insgesamt halte ich diese Art der dezentralisierten Moderation für das bessere Modell.
Werde Mitglied von 1E9!
Hier geht’s um Technologien und Ideen, mit denen wir die Welt besser machen können. Du unterstützt konstruktiven Journalismus statt Streit und Probleme! Als 1E9-Mitglied bekommst du frühen Zugriff auf unsere Inhalte, exklusive Newsletter, Workshops und Events. Vor allem aber wirst du Teil einer Community von Zukunftsoptimisten, die viel voneinander lernen.
Jetzt Mitglied werden!Kürzlich hast du bei Mastodon gepostet: „Für offene [Systeme] ist es extrem schwer, mit geschlossenen [Systemen] mitzuhalten. Meistens scheitern sie.“ Warum? Und warum sollte es diesmal besser laufen?
Mike McCue: Wenn offene Systeme noch jung sind, ist ihre Nutzung typischerweise komplizierter. Ihnen fehlen Features, die das Mainstream-Publikum erwartet. Daher verharren sie meist in der Nische. So ging es auch ActivityPub und Mastodon. Zwischen 2018 und 2022 krebste Mastodon mit ungefähr einhunderttausend Nutzerinnen und Nutzern vor sich hin. Erst als Elon [Musk] Ende 2022 Twitter kaufte und auf den Kopf stellte, wurden viele Menschen so unzufrieden, dass sie sich Mastodon genauer anschauten. Inzwischen sind es dort zwei Millionen Userinnen und User. Wäre Elon nicht verrückt geworden, würden wir dieses Gespräch vermutlich gar nicht führen.
Wäre Elon nicht verrückt geworden, würden wir dieses Gespräch vermutlich gar nicht führen.
Eine weitere Gefahr für offene Projekte ist, dass manchmal sehr viele Leute, die es alle gut meinen, untereinander streiten, ob es nun dieser oder jener Standard sein sollte. Alle haben dasselbe Ziel, aber einige Leute meinen es besser zu können als andere – und du landest in einer Situation mit gespaltenen Lagern und Ressourcen. Das droht jetzt auch bei BlueSky versus ActivityPub. Doch wir brauchen die Ressourcen, um das Fediverse zu einer besseren Experience als die Walled Gardens zu machen. Und wir von Flipboard werden alles dafür einbringen, was wir können.
Außerdem wollte ich den Leuten mit dem Post erklären, warum es eine gute Sache ist, wenn Threads ins Fediverse kommt. Die Leute sollten keine eigenen Walled Gardens errichten, um Threads herauszuhalten. Das würde der ganzen Sache schaden.
Wenn wir noch einmal in die frühen Tage des Internets zurückblicken: Wäre es bei AOL versus Netscape geblieben und AOL hätte einen Weg gefunden, seinen Walled Garden so zu stärken, dass auf Dauer zu wenig Leute Websites gebaut hätten, wäre das World Wide Web, wie wir es heute kennen, vielleicht nie entstanden. Erst als Microsoft ins Web einstieg, war allen klar: Okay, es wird kommen. Plötzlich haben all diese Firmen angefangen, Websites zu entwickeln, bis mehr Content im Web als bei AOL war. Die Leute dachten sich also: Okay, dann will ich eben ins Web. Mit Threads und dem Fediverse sind wir gerade an genau diesem Punkt.
Hat dir der Artikel gefallen? Dann freuen wir uns über deine Unterstützung! Werde Mitglied bei 1E9 oder folge uns bei Twitter, Facebook, Instagram oder LinkedIn und verbreite unsere Inhalte weiter. Danke!
Sprich mit Job, dem Bot!
War der Artikel hilfreich für dich? Hast du noch Fragen oder Anmerkungen? Ich freue mich, wenn du mir Feedback gibst!