Es gibt Programme und Daten, die halten unsere moderne Welt am Laufen. Doch was, wenn sie verschwinden, wenn es zu einer Katastrophe oder einem Krieg kommt? Im hohen Norden auf der Insel Spitzbergen liegt in einer ehemaligen Kohlemine das Arctic World Archive. Dort werden seit mehreren Jahren fotografische und digitale Kopien von Kunstwerken, Dokumenten aber auch von Daten einlagert – gesichert auf Filmstreifen, die Hunderte Jahre überstehen sollen.
Von Michael Förtsch
Longyearbyen ist eigentlich nicht sonderlich bemerkenswert. Die Stadt liegt auf der norwegischen Insel Spitzbergen im hohen Norden. Nur knapp 2.100 Menschen wohnen und arbeiten hier – unter anderem für das norwegische Polarinstitut, eine Satelliten-Station und verschiedene Forschungsinitiativen. Es gibt einige Straßen, Häuschen, Büro- und Hallengebäude, Kneipen, eine Hafenanlage und einen Flugplatz. Dennoch ist Longyearbyen berühmt. Oder zumindest eine Einrichtung, die dort in einen Berghang getrieben wurde: der Svalbard Global Seed Vault, ein Bunkerbau, der seit 2007 als kühler Lagerplatz für Saatgut aus der ganzen Welt dient. Er soll sicherstellen, dass im Falle von Katastrophen Nutzpflanzen wie Reis, Weizen und Kartoffeln überleben, da ihre Samen archiviert sind. Seit 2017 hat der Seed Vault einen Nachbarn, der zwar nicht so bekannt ist, aber eine nicht minder ambitionierte Mission erfüllen soll.
In der Vergangenheit wurde auf Spitzbergen in großem Maßstab Kohle abgebaut. Es gibt daher mehrere Bergwerke, die heute stillgelegt und nicht mehr in Betrieb sind.
Katrine Loen
Gerade einmal eineinhalb Kilometer in Richtung Norden, direkt am Hang entlang, finden sich einige Schiffscontainer und Wellblechhütten. Und eine riesige Halle. Von dort verläuft ein breiter Gang in den Berg hinein, in die Gruve 3. Das war einst eine Kohlemine, die schon vor Jahren aufgegeben wurde. Heute befindet sich den Tiefen des Schachtes das Arctic World Archive. „In der Vergangenheit wurde auf Spitzbergen in großem Maßstab Kohle abgebaut“, sagt Katrine Loen, die das Archiv betreut und mitentscheidet, was hineinkommt, zu 1E9. „Es gibt daher mehrere Bergwerke, die heute stillgelegt und nicht mehr in Betrieb sind.“
Tatsächlich erinnert das Archiv noch sehr an eine Kohlemine – zumindest auf den ersten 300 Metern. Der Gang besteht aus grob behauenem Fels, die Wände und Decken werden von alten Holzpfählen und Bohlen getragen. Die Schiene für eine Lore zieht sich am Boden entlang. 150 Meter geht es in die Tiefe. Dann folgt eine Kurve und dahinter eine sauber gearbeitete Betonwand mit einem dicken Stahltor darin. Darüber leuchten in LED-Schrift die Buchstaben AWA. Auf dem Stahltor stehen dazu die Worte: Arctic World Archive. Und: Protecting World Memory. Genau das ist die Aufgabe des Bunkerbaus.
Ein kühler Ort für das Weltwissen
Während der Svalbard Global Seed Vault das Saatgut und die Nutzpflanzen der Welt bewahren soll, soll das Arctic World Archive eine Art Gedächtnis unserer modernen Zivilisation darstellen – für die „kommenden Jahrhunderte“, wie Katrine Loen und die Initiatoren betonen. Das sind das norwegische Datensicherungsunternehmen Piql und die staatliche norwegische Bergbaufirma Store Norske Spitsbergen Kulkompani. Eingelagert werden Texte, Fotografien und digitale Daten aller Art. Wobei: „Das Arctic World Archive akzeptiert nur Depositen, die einen Nutzen für die künftigen Generationen darstellen – oder, die für eine Organisation von besonderer Bedeutung sind“, sagt Katrine Loen.
Unter anderem finden sich in der ehemaligen Kohlemine beispielsweise Aufnahmen von Kunstwerken wie Der Schrei von Edward Munch, die das Nationalmuseum von Norwegen anfertigte, oder auch die Kopie einer Gutenberg-Bibel der Goethe Universität. Die Bibliothek des Vatikans hat 500 ihrer wichtigsten Manuskripte sichern lassen. Der italienische Filmverleih Variety Communication und die Filmsammlung Cineteca di Bologna haben Filmklassiker wie die Fahrraddiebe und Das Wunder von Mailand hinterlegt. Das Musikalbum Music for the Jilted Generation von The Prodigy befindet sich ebenfalls in der Mine.
Das Arctic World Archive akzeptiert nur Depositen, die einen Nutzen für die künftigen Generationen darstellen – oder, die für eine Organisation von besonderer Bedeutung sind.
Katrine Loen
Seit Juli 2020 lagern im Arctiv World Archiv außerdem die Quelltexte von 6.000 der wichtigsten Programme, die auf der Software-Verwaltungs- und Entwicklungsplattform GitHub gelistet sind. Darunter die Betriebssysteme Linux und MS-DOS, die Programmiersprachen Python und Ruby, das Künstliche-Intelligenz-Framework TensorFlow und die Webplattformen Node und React – samt Informationen, was für Programme es sind und wofür sie taugen. Insgesamt 21 Terabyte an Daten. Der Siemens-Konzern wiederum hat Dokumente und Fotogramme aus seiner Gründungszeit in die sichere Verwahrung gegeben.
All diese Schätze werden jedoch nicht auf USB-Sticks, Festplatten, DVDs, Blu-rays oder CDs in die dichten Container verladen, die sich hinter der dicken Stahltür befinden. Denn diese Speichermedien haben eine vergleichsweise kurze Lebensdauer und drohen in kurzen Abständen, von immer neuen Formaten abgelöst zu werden. „Auch viele Speichermedien, die auf Langzeitspeicherung ausgelegt sind, zum Beispiel optische Platten oder Bänder, können nur wenige Jahre, bestenfalls ein oder zwei Jahrzehnte überstehen“, sagt Katrine Loen. Daher setzt das Archiv auf eine ziemlich alte, aber widerstandsfähige Speichertechnik: einen speziell entwickelten und analogen 35mm-Fotofilm.
„Wir haben seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Zeit, Umweltbedingungen, extrem hohen Temperaturen bis hin zu extrem niedrigen Temperaturen getestet“, sagt Loen. Der Film soll in ausgiebigen Versuchsreihen radioaktiver Strahlung und selbst einem Tauchgang in minus 196 Grad Celsius kaltem Flüssigstickstoff standgehalten haben. Mindestens 500 Jahre könnten die PiqlFilm getauften Filmstreifen halten – unter Idealbedingungen sogar 1.000 Jahre oder mehr.
Gesichert mit alter Technik
Tatsächlich können bereits normale Kamerafilmstreifen, die eigentlich auf eine Lebensdauer von zehn bis 15 Jahren ausgelegt sind, teils 50 bis 100 Jahre überdauern. Klassische Microfilme, auf denen vielfach Zeitungsarchive und Zeitdokumente fotografisch gesichert werden, können zwischen 250 und 500 Jahren aufbewahrt werden. Insbesondere in trocken und kalten Umgebungen. Und selbst im beschädigten Zustand sind Filmstreifen, wenn sie beginnen, sich zu zersetzen, noch lesbar. Beschädigungen sind sichtbar und lassen sich daher ausbessern.
Die Hinterlassenschaften, die im Arctic World Archive gelagert werden, können direkt als Foto, Text oder Video auf den rund 1.000 Meter langen Filmstreifen gespeichert werden. Aber ebenso können sie auch als analoge Digitaldatei verwahrt werden. Dafür werden digitale Bild-, Text- und anderen Datei-Formate von Piql in Hunderte oder Tausende QR-Code-Flächen umgewandelt – und dadurch im Binärformat gesichert. Ein ausgefülltes Kästchen steht für eine 1, ein leeres oder transparentes für eine 0. Auf die Filmstreifen werden sie mit einem speziellen Belichtungsgerät geschrieben, das Piql entwickelt hat, das aber grundsätzlich ähnlich einer Filmkamera funktioniert.
Auf einen PiqlFilm-Streifen passen rund 120 Gigabyte an Daten. Alleine GitHub hat knapp 21 Terabyte an Quellcode in dem kühlen Archiv einlagern lassen.
Ganze 8,8 Millionen Kästchen sind pro Fotofläche zusammengepresst. Je Filmrolle ergibt sich so eine Datenmenge von rund 120 Gigabyte, die dann in einer luft- und wasserdichten sowie feuerfesten Kartusche verpackt wird. Die Kartuschen werden dann noch einmal in Hüllen verschweißt, die den Inhalt gegen Bakterien, Gase, elektromagnetische Strahlung und andere Einflüsse schützen sollen. Müssen Daten wiederhergestellt werden, holt ein Mitarbeiter die entsprechenden Rollen aus dem Bunker und spannt sie in ein Lesegerät, das an eine Bandmaschine erinnert, wie sie in alten Mainframe-Rechnern genutzt wurde. Das Gerät wandelt die Micro-QR-Codes nahezu automatisch und binnen weniger Minuten wieder in digitale Daten um.
Eine sichere Zone
So aufwendig der Sicherungsprozess des Arctic World Archive ist, so sicher sollen die Daten und Dokumente aber dann auch im kalten Norden sein. Laut den Initiatoren wären die Rollen tief im Berg selbst vor einem Atomkrieg geschützt. Vor Hackern sowieso. Erdbeben und ähnliche Katastrophen wären aufgrund der stabilen Geologie der Region wenig wahrscheinlich. Und auch politische Konfliktsituationen wären dort kaum eine Gefahr. Einerseits weil die Insel so abgelegen ist, dass kaum geopolitisches Interesse daran besteht. Aber auch weil Spitzbergen laut einem Vertrag von 1920 als entmilitarisierte Zone gilt. Heißt: Dort dürfen dauerhaft keine militärischen Einheiten stationiert werden.
„Der Vertrag wird von 42 Staaten anerkannt“, sagt Loen. Dazu gehören auch China, Russland und die USA. Daher glauben die Arctic-World-Archive-Gründer, dass die Daten im Stollen gut und gerne auch sie selbst und das Unternehmen überleben könnten. Auch dafür wird also Vorsorge getroffen. Auf jedem Filmstreifen ist nämlich eine kleine Anleitung enthalten, die erklärt, wie die Inhalte ausgelesen werden können. Das ginge im Fall der Fälle auch ohne eines der Piql-Lesegeräte mit einer Kamera und einem Computer, der die 1- und 0-Kästchen interpretiert. Die Software, die Piql selbst dafür entwickelt hat, ist natürlich auch im Bunker hinterlegt.
Sollte es also irgendwann zur Apokalypse kommen, die Zivilisation untergehen und gleich Science-Fiction-Romanen wie Lobgesang auf Leibowitz alles Wissen vergessen werden, könnte Longyearbyen zu einem ganz besonderen Ort werden. Zu dem Ort, an dem die Menschheit das Wissen aus der Zeit vor der Zeit wiederentdecken kann. Auch an der Technik, sich dieses Wissen selbst unter widrigen Umständen wieder zu erschließen, arbeiten die Macher des Arctic World Archive. Zusammen mit Informatikern und gefördert von der Europäischen Union wollen sie eine Preservation Virtual Machine entwickeln. Das minimalistische Programm soll aus für Menschen lesbarem Code bestehen, der es nahezu ohne Vorkenntnisse ermöglichen soll, die Wissens- und Daten-Schätze zu entschlüsseln. Bleibt zu hoffen, dass dieses Programm nicht allzu bald nötig sein wird.
Teaser-Bild: James Padolsey auf Unsplash