In ganz Deutschland wurden über die vergangenen Jahrzehnte Bahntrassen stillgelegt. Die Gleise sind in vielen Fällen noch vorhanden – ebenso wie der Bedarf für zuverlässigen Personentransport. Der Entwurf einiger Studierender zeigt, wie solche Bahnstrecken mit aktueller Technik reanimiert werden könnten.
Von Michael Förtsch
Es hat nicht gerade gut funktioniert. Vor nunmehr 28 Jahren wurde die Deutsche Bahn privatisiert. Dieser Schritt sollte den Betrieb und Ausbau des Bahnverkehrs in Deutschland schneller, flexibler und konkurrenzfähiger machen. Aber statt mehr Bahn gibt es in der Bundesrepublik heute weniger als zuvor. Über 5.400 Streckenkilometer wurden über die Jahre stillgelegt. Vor allem im ländlichen Raum liegen zahlreiche einst regelmäßig befahrene Trassen brach – und schneiden zuvorderst Dörfer und kleine Gemeinden ab. Dabei wären die Gleise in vielen Fällen durchaus noch nutzbar und nützlich, um einen flexiblen und umweltschonenden Transport zu ermöglichen. Einige Studierende der Muthesius Kunsthochschule in Kiel haben daher ein futuristisches Konzept entwickelt, das diese Trassen wiederbeleben könnte.
Die Idee von Erik Mantz-Hansen, Lea Haats und Konstantin Wolf trägt den Namen Abacus und gleicht einem schwebenden Informationsstand. Denn das Vehikel sitzt in Form eines großen abgerundeten Rahmens nah über den Schienen. Seine zwei Außenwände sind offen. Ein- und aussteigen können die Fahrgäste jederzeit. Mit einem einfachen Winken soll sich die Gleisbahn zum Stopp auffordern lassen. Das Konzept könnte glatt einer der futuristischen Malereien des 2019 verstorbenen Künstlers Syd Mead entsprungen sein, der nebst der Dystopie von Blade Runner auch utopische Mobilitätswelten für eine strahlende Zukunft erdacht hat.
Die Vision für den Abacus ist jedoch nicht von der Science Fiction inspiriert, sondern der Vergangenheit des Schienenverkehrs. Und zwar konkret jenem zwischen zwei Orten in Schleswig-Holstein, wie Erik Mantz-Hansen gegenüber 1E9 erklärt. Die haben die Studierenden im Rahmen eines Forschungsprojektes untersucht. „Die spezifische Trasse von Groß Rönnau bis Bad Segeberg ist uns aufgefallen, da sie einst eine Lebensader des Schienenverkehrs in Schleswig Holstein war“, sagt er. Diese Lebensader ist aber bereits seit einigen Jahrzehnten verwaist und der einstige „positive Einfluss, den sie auf den Ort hatte, nun verloren“.
Autonom und gemütlich
Wie auch bei zahlreichen Strecken deren Betrieb erst später eingestellt wurde, ist auch die Trasse zwischen Groß Rönnau und Bad Segeberg in Teilen noch erhalten. Sie verläuft nun direkt neben einem Radwanderweg. Derartige Abschnitte, meinen die Studierenden, könnten mit ihrem futuristischen Schienenfahrzeug ein zweites Leben erhalten – und das ohne allzu viel Aufwand oder Geschwindigkeit. Denn ein Abacus-Wagen soll mit maximal 20 Kilometern pro Stunde zwischen zwei Punkten pendeln. „Die damaligen Bahnen in der Region waren so langsam, dass man auf die fahrenden Wagons aufspringen konnte, um zum nächsten Ort zu gelangen“, so Mantz-Hansen. „Dieses Gefühl wollten wir in die Produktarchitektur von Abacus übersetzen.“
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Jetzt Mitglied werden!Menschliche Aufsicht soll für den Wagen vollkommen unnötig sein. Ein KI-System soll stattdessen mit Kameras und Sensoren – ganz ähnlich automatisierten Roboter-Taxis – Menschen, Tiere oder Hindernisse auf der Strecke erkennen, die Geschwindigkeit anpassen oder auch stoppen. „[Ähnliche] autonome Schienenfahrzeuge existieren bereits“, sagt Mantz-Hansen. „Sowohl die Induktionstechnologie für den Betrieb des Fahrzeugs , als auch die KI Mustererkennung sind etabliert und auf dem Stand der Technik, auf dem Abacus basiert.“ Tatsächlich sind rund um die Welt schon zahlreiche autonome Bahnen unterwegs – vor allem als Flughafen-Shuttles. Aber auch voll-autonome S- und Straßenbahnen fahren bereits in China, Japan, Südkorea und testweise auch in Deutschland.
Abacus lässt sich auch in andere Teile des Landes übersetzen, da der Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln nicht nur hier herrscht.
Erik Mantz-Hansen
Technische Hürden für eine Umsetzung des Abacus gäbe es also nicht, meinen die Studierenden. Das Konzept wäre auch nicht nur für Groß Rönnau und Bad Segeberg interessant. „Die ländliche Region in Schleswig-Holstein ist nur ein Beispiel“, bestärkt Mantz-Hansen. „Abacus lässt sich auch in andere Teile des Landes übersetzen, da der Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln nicht nur hier herrscht.“ Zahlreiche Regionen seien über die Jahre hinweg von einem zuverlässigen Nahverkehr abgeschnitten worden, obwohl die Infrastruktur da wäre. Der Design-Entwurf Abacus wäre eine mögliche Option, um diese zu revitalisieren. Noch haben sich keine Firmen oder Gemeinden bei den Designern gemeldet. Aber: „Sollte es dazu kommen“, sagt Mantz-Hansen, „würden wir uns freuen, Abacus Wirklichkeit werden zu lassen.“
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