Die Rückkehr der Privatheit? Nym-Gründer Harry Halpin im Interview

Anarchie und Schweizer Banken gehen schwer zusammen? Nicht in der Welt von Harry Halpin. Mit seinem Start-up Nym will er die Diskretion ins Netz zurückbringen – und die Leute ermächtigen, ihr eigenes Ding zu tun. Wir sprechen mit ihm über Datenschutz als kollektives Gut, die Vision der Kryptoanarchie und die bröckelnde Macht der Regierungen und Konzerne.

Ein Interview von Krischan Lehmann

„Ihr Privatleben ist vollkommen Ihr Bier“, heißt es 1986 in doppelseitigen Zeitungsannoncen des Statistischen Bundesamtes für die damals anstehende Volkszählung. „Was Sie lieben, denken oder wählen, geht uns nichts an.“ Eine 46 Millionen D-Mark schwere Werbekampagne, die teuerste einer deutschen Regierung bis dato, war nötig geworden, weil man eine hohe Quote an Boykotteuren fürchtete. Zeitweilig lehnte die Hälfte der deutschen Bevölkerung die Volkszählung ab – meist aus Angst, durch Beantwortung der 33 Fragen zu einem gläsernen Menschen zu werden, der im Zuge der Computerisierung schleichend seine Bürgerrechte einbüßt und zu einem Spielball der Wirtschaft und technokratischer Institutionen wird.

Aus heutiger Sicht – nach der NSA-Affäre und dem Fall Cambridge Analytica – wirkt der damalige Aufstand der braven Bürger so vernünftig wie naiv. Zwar gilt Deutschland im weltweiten Vergleich als wahrer Hort des Datenschutzes, aber im Grunde ist der Daueralarm der IT-Experten zu einem tinnitushaften Nebengeräusch geworden. Ein stetiger News Stream rund um Datenlecks, Schwachstellen und Sicherheitslücken hat uns systematisch desensibilisiert. Oder anders: Mit dem Aufkommen der großen sozialen Netzwerke und Cloud-Dienste verlor die Privatheit an sich ihren Wert. Was früher bei Hempels unterm Bett blieb, wird heute zur Instastory. Dem Staat gegenüber, Stichwort: BND-Gesetz, sind wir noch halbwegs kritisch, den großen Internet-Konzernen schmeißen wir unsere Daten aber nur so nach. Alexa, schalt die Glotze an!

Nym passt viel besser zu unseren Vor-Internet-Gehirnen, die Räume gewohnt sind, in denen nicht die ganze Welt mitlauscht.

Harry Halpin, Nym

Womit wir bei unserem Interviewgast Harry Halpin wären. Der hat seine mannigfaltige akademische Karriere (siehe Infokasten) an den Nagel gehängt, um das Netz wieder cool zu machen und online den Leuten ihr Privatleben zurück zu geben. Sein Projekt: Nym, ein dezentrales Netzwerk, das die Spuren der Internet-User so stark verwischen soll, dass selbst die mächtigsten Geheimdienste das Nachsehen haben.

1E9: Du bist zwar seit vielen Jahren Wissenschaftler und jetzt auch Start-up-Gründer, bezeichnest dich aber in erster Linie als Kryptoanarchist. Was genau verstehst du darunter?

Harry Halpin: Kryptoanarchie klingt erst einmal sehr gefährlich, und sie ist vermutlich für einige altmodische Institutionen auch gefährlich, aber eigentlich geht es nur um den gesunden Menschenverstand: Wir können nicht darauf vertrauen, dass Regierungen und andere staatliche Einrichtungen unsere Daten schützen und in unserem besten Interesse handeln. Das lehrt uns die Geschichte. Wenn ein Notstand eintritt, können Staaten die Gesetze auf undemokratische Weise ändern. In den meisten Gesetzesrahmen ist dafür irgendeine Art von Ausnahme definiert. Die Vereinigten Staaten haben zum Beispiel nach 9/11 einen Ausnahmezustand erklärt, ähnliches geschah in Deutschland nach dem Reichstagsbrand. Sowas lässt sich letztlich bis ins alte Rom zurückverfolgen. Und da wir seit Corona in einem permanenten Ausnahmezustand leben, befürchte ich, dass unsere Institutionen eine gefährliche Gewohnheit des Regelbruchs entwickeln – selbst wenn alle Maßnahmen gut gemeint sind.

Und hier kommt nun die Kryptographie ins Spiel, die – was viele Leute gar nicht wissen – inzwischen so ausgereift ist, dass sich selbst mächtige Geheimdienste daran die Zähne ausbeißen.

Harry Halpin: Exakt. Der einzige Weg, unser Recht auf Privatsphäre zu verteidigen, ist die Kryptographie. Sie war nicht ohne Grund bis vor kurzem in den USA noch ein Staatsgeheimnis. Einige Akademiker haben das dann untergraben und sich gegen die NSA gewehrt, indem sie die Public-Key-Kryptografie öffentlich machten. Diese Systeme konnten bisher aber immer nur von Computerprofis verwendet werden. Mit Nym wollen wir den Kampf für mehr Privatheit nun auf eine neue Stufe heben und ganz normalen Menschen die Möglichkeit geben, zum Datenschutz als kollektivem Gut beizutragen und Teil eines wirtschaftlich nachhaltigen privaten Internets zu sein.

Wie geht ihr mit der Tatsache um, dass man Privatheit auch missbrauchen kann und euer Netz dann für kriminelle Aktivitäten nutzen wird?

Harry Halpin: Grundsätzlich glaube ich ja, dass der Mensch sich evolutionär zu einem ehrlichen und kooperativen sozialen Wesen entwickelt hat. Aber natürlich kann Anonymität auch missbraucht werden. Ebenso kann sie aber Leben retten, z.B. das von Whistleblowern in repressiven Ländern – von denen es mehr als genug auf der Welt gibt. Und die Überwachung und der Mangel an Privatsphäre im Netz ermöglichen es Kriminellen ja derzeit erst, die Internetnutzer ins Visier zu nehmen. Insofern bin ich überzeugt, dass der Nutzen von anonymen Systemen in Summe überwiegt.

Erstaunlich eigentlich, dass das Internet sich überhaupt zu so einer Datenschleuder entwickelt hat…

Harry Halpin: Die Risikokapitalgeber in den USA waren nie besonders an den Themen Datenschutz und Privatsphäre interessiert, weil es sehr schwer war, mit Computern überhaupt Geld zu verdienen. Und so bekam eine Art Überwachungsstaat-Werbemodell die Oberhand – das letztlich auch ganz gut zum Glauben der US-Regierung an eine allumfassende Überwachung der ganzen Welt für die eigenen nationalen Interessen passte. Wenn man ein neues Unternehmen gründen wollte, musste man mit diesem Geschäftsmodell mitgehen. Der Aufstieg von Bitcoin und Kryptowährungen im Allgemeinen hat jetzt ganz neue autonome Möglichkeiten der Kapitalbildung geschaffen. Und die Leute glauben jetzt wieder fest daran, das Internet neu gestalten zu können.

Wann hast du angefangen, dich für das Thema „Überwachung“ zu interessieren?

Harry Halpin: Ich habe über meine Anwälte herausgefunden, dass es Akten der britischen und der US-Regierung über mich gab, weil ich in meiner Zeit als Doktorand an Protesten gegen den Klimawandel in Großbritannien teilgenommen hatte. Es stand nichts Schlimmes darin, vieles war geschwärzt, aber als ich versuchte, meinen ersten Job zu bekommen, gab es plötzlich Probleme. Ein Undercover-Polizist tauchte auf und versuchte, die Person, die mich einstellen wollte, einzuschüchtern. Das klingt vielleicht völlig verrückt, aber solche Sachen passieren einfach. Später fand ich heraus, dass diese Methoden viel verbreiteter sind, als ich dachte. Anscheinend gab es eine schwarze Liste mit Gewerkschaftsmitgliedern, Antirassismus- und Umweltaktivisten, die der britische Geheimdienst angelegt hatte. Ich war schockiert, dass sowas in Westeuropa passiert, und habe daraufhin angefangen, mich stärker mit Datenschutz zu beschäftigen.

Und als ich später das Privileg hatte, (den Bitcoin-Entwickler und Aktivisten, Anm. d. Red.) Amir Taaki in Syrien zu besuchen, wo er auf Seiten der Kurden gegen den Islamischen Staat kämpfte, bekam ich mit, wie die Überwachungsmaßnahmen des IS zu Drohnenangriffen auf Autos mit Zivilisten führten. Plötzlich ging es also um Leben und Tod. Außerdem hatte ich russische Doktoranden, die in ihrer Heimat viel Unterdrückung erlebt haben. Da dachte ich irgendwann, dass es an der Zeit wäre, den jahrzehntelangen Vorsprung der Staaten in Sachen Überwachung einzuholen und Werkzeuge zu bauen, mit denen man sich dagegen wehren kann.

Lass uns, bevor wir über Nym sprechen, noch einmal beim Internet selbst bleiben. Was ist die Philosophie des Netzes, an der du an der Uni geforscht hast?

Harry Halpin: Ich kam über politische Protestbewegungen ins Netz, frühe Social-Media-Seiten wie Indie Media und Mailinglisten. Und als ich ab 2003 anfing, mich mit Internetprotokollen zu beschäftigen – das waren damals so Sachen wie RSS, OpenID und so weiter – und ich mit einigen Developern ins Gespräch kam, wurde mir bewusst, dass sich viele der Diskussionen, die sie führten, gar nicht um technische Fragen drehten, sondern um tiefe philosophische und politische. Es ist eine große Menge an unterschwelligen philosophischen Gedanken ins Design des Netzes geflossen, sowohl in seiner Form als universeller Kommunikationsraum wie auch als dezentraler Ort mit wenigen mächtigen Instanzen.

Daraufhin habe ich einige Jahre in Frankreich gearbeitet und zusammen mit meinem guten Freund, dem leider letztes Jahr verstorbenen französischen Philosophen Bernard Stiegler versucht, ein Framework für diese inhärenten philosophischen Positionen des Web zu entwickeln. Es geht hier nicht nur um so Sachen wie die Widerstandsfähigkeit des Netzes gegen Atomkriege, sondern auch um die menschliche Freiheit, das individuelle Recht auf Privatsphäre, die freie Meinungsäußerung und den Zugang zu Wissen. Wir wollten, dass die Werte, mit denen das Netz erschaffen wurde, ihm auch erhalten bleiben. Deshalb haben wir sie gemeinsam systematisiert und eine Reihe von Konferenzen dazu abgehalten. Letztlich reicht es aber nicht, darüber zu reden. Wir müssen die Grundwerte des Netzes in die Protokolle selbst hineinschreiben. Und das haben wir beim Mixnet-Protokoll von Nym jetzt auch getan.

Wie kam es zu Nym?

Harry Halpin: Als Bitcoin aufkam, arbeitete ich gerade mit Unterstützung der Europäischen Kommission an Datenschutz-Projekten in Frankreich. Und ich habe mich gefragt, ob es nicht toll wäre, wenn wir unsere Erkenntnisse aus dem Labor herausholen und wirklich umsetzen könnten. Ich war ja auch jahrelang im Silicon Valley tätig und habe dort hautnah mitbekommen, wie wenig die Unternehmen in der Lage sind, ihr Geschäftsmodell so zu ändern, dass die Privatsphäre der Nutzer geschützt bleibt. Und plötzlich merkte ich, dass die durch Bitcoin entstandene Kryptosphäre eine einmalige Chance dafür ist. Ich hatte zwar keine Erfahrung mit Venture-Capital-finanzierten Start-ups, aber wir haben schnell festgestellt, dass die europäischen Risikokapitalgeber auch in finanzieller Hinsicht sehr datenschutzfreundlich sind. Unsere ersten Investoren kamen aus Deutschland und wir haben dann auch im Rahmen des „Chaos Computer Congress“, den ich seit 2012 besuche, unsere Software der Öffentlichkeit vorgestellt.

Wenn man sich das Netz im Moment anschaut, gibt es einerseits den großen Trend der Dezentralisierung durch Bitcoin und die Kryptowelt, auf der anderen Seite haben wir aber diese riesigen Plattformen, die alle möglichen Daten sammeln und auch als politische Instrumente missbraucht werden. Wie siehst du ingesamt diese Entwicklung?

Harry Halpin: Ich bin da sehr optimistisch. Fake News zum Beispiel sind ja wahrlich kein neues Phänomen. Die Sowjetunion hat „Radio Moskau“ finanziert, die Vereinigten Staaten „Radio Free Europe“. Das Internet trägt also höchstens dazu bei, dass diese Art von Propaganda – ein Begriff, den ich besser finde als „Fake News“ – verstärkt wird. Und natürlich ist das Internet oft ein Ventil für asoziales Verhalten, aber auch die Reformation in Deutschland führte zu jahrelangen Bürgerkriegen mit vielen Opfern. Und trotzdem würde doch heute in der Rückschau niemand sagen, dass man den Leuten hätte verbieten sollen, die Bibel zu lesen und selbst Bücher zu schreiben.

Ganz offensichtlich war der Nettogewinn für die Gesellschaft durch die Massenalphabetisierung ungeheuer positiv, und das Gleiche gilt für das Internet heute. Ja, es gibt gerade einen sehr gefährlichen Moment der Gegenaufklärung, aber es ist auch der beste Moment, um auf der Welt zu sein, weil man zusammen mit anderen Menschen, die politisch, philosophisch und technisch im Internet engagiert sind, die Menschheit wirklich voran bringen kann. Das ist ein sehr großes politisches und philosophisches Projekt – und die Kryptoanarchisten sind ganz vorne mit dabei.

Im Grunde müssen wir eine Art Pascalsche Wette eingehen: Wenn es eine Chance von eins zu einer Million gibt, dass das Netz die Menschheit aus dieser massiven Krise des Klimawandels, der Massenüberwachung und der Wirtschaftskrise herausführen kann, dann sollten wir trotzdem lieber handeln, anstatt zu kapitulieren.

Das klingt ziemlich idealistisch…

Harry Halpin: Und das ist unser Team auch. Wir sind gerade mal zwölf Leute und treten gegen Abertausende von Programmierern bei Google, Facebook und Apple an, die über nahezu unendliche Ressourcen verfügen. Aber das Word Wide Web wurde auch von einem Systemadministrator am CERN-Lab in Genf in einer Nebenbeschäftigung entwickelt. Und als Tim Berners-Lee den Leuten davon erzählte, haben sie ihn nicht ernst genommen.

Es ist nicht völlig unmöglich, dass David Goliath besiegt.

Harry Halpin, Nym

Jeder im Silicon Valley weiß, dass die Internet-Giganten im Moment nicht mehr innovativ sind. Wann hast du das letzte Mal zum Beispiel sowas wie Google Maps gesehen? Das Gleiche gilt für die Staaten dieser Welt: Wann hat die staatliche Überwachung das letzte Mal einen Terroranschlag verhindert? Es ist deutlich zu sehen, dass der Goliath unserer Tage, nämlich die Silicon-Valley-Giganten und die großen Regierungsinstitutionen, die an Geheimdienste und Massenüberwachung glauben, schwach geworden sind. Sie werden diese neue Arten von Technologien nicht überleben.

Glaubst du wirklich, dass es die Staaten, wie wir sie kennen, nicht mehr lange gibt?

Harry Halpin: Ja. Es gibt sie ja im Grunde auch erst seit dem Westfälischen Frieden. Und es fällt ihnen zunehmend schwer, das Konzept einer repräsentativen Demokratie aus dem 18. Jahrhundert auf die Realität des 21. Jahrhunderts zu übertragen. Ich kann nicht sagen, was danach kommt, aber ich glaube, dass es demokratischer, feministischer und kreativer zugehen wird. Wir haben ja die ersten Experimente gesehen: Die Piratenpartei oder die kurdische Bewegung in Rojava.

Wenn solche neuen Formen der direkten, partizipativen Demokratie auf die transnationalen Communitys des Internets treffen, könnten wirkliche Reformen oder gar Revolutionen entstehen. Und es könnten einige der systemischen Probleme behoben werden, die die Nationalstaaten vor Hunderten von Jahren vom Gottesgnadentum geerbt haben. Damals hätte auch niemand gedacht, dass königliche Herrscher verschwinden würden, aber genau das taten sie. Ich glaube, dass wir die repräsentative Demokratie bald hinter uns lassen und zu ausgefeilteren demokratischen Formen kommen werden – aber auch zu mehr individueller Freiheit und Souveränität. Das muss sich nicht unbedingt ausschließen.

Die Frage ist natürlich, wie das gehen kann, ohne dass sozial schwache Menschen durchs Raster fallen…

Harry Halpin: Natürlich sollten wir uns um die Schwachen und Armen kümmern! Aber ich glaube, dass das auch ohne eine zentralisierte Infrastruktur geht, die sich zwar oft den sozial schwachen Menschen annimmt, ihnen gleichzeitig aber nicht die Freiheit gibt, ihre Situation zu verbessern. Ich weiß nicht, wie es gerade in Deutschland aussieht, aber ich habe in Großbritannien gelebt, wo die ehemalige Arbeiterklasse inzwischen „halbarbeitslos“ ist. Es gibt nun mal einen Unterschied zwischen Leben und Überleben. Die Leute wollen leben. Sie haben Träume und wollen ihre Freiheit.

Ich bin Anarchist und stark von der politischen Linken, wie Rosa Luxemburg und Karl Marx beeinflusst, aber auch von der anarchistischen Tradition vom Schlage eines Pjotr Alexejewitsch Kropotkin oder Michail Bakunin. Und trotzdem glaube ich, dass uns auch die libertäre Denkschule mit ihrer Betonung der individuellen Freiheit viel zu bieten hat. Es wird oft unterschätzt, dass Menschen freie Individuen sein und ihre ganz eigenen Netzwerke haben wollen. Das sollten wir akzeptieren! Und es gibt nun einmal Probleme, die dezentral und mit einem freien Markt besser gelöst werden können.

Als ihr auf Twitter angekündigt habt, dass ihr das Nym-Netzwerk über einen Kryptotoken finanziert wollt, gab es einige Kritik…

Harry Halpin: Wir haben uns bei Nym für eine marktbasierte Lösung entschieden, weil wir eine globale Lösung wollen und beim TOR-Projekt gesehen haben, dass Altruismus einfach nicht gut skaliert. Es gibt gerade mal 7.000 Nodes im TOR-Netzwerk. Und viele davon sind immer mal wieder abgeschaltet. TOR ist prinzipiell eine wunderbare Sache, aber wenn man sich nicht darauf verlassen kann, wird man es nicht benutzen. Also haben wir uns bei NYM an den Anreizstrukturen von Bitcoin orientiert und bieten den Node-Betreibern finanzielle Belohnungen, weil sie im Gegenzug etwas bereits stellen, was der Markt sonst nicht hergeben würde, nämlich eine Privatsphäre. Wir haben also idealistische Konzepte aus verschiedenen politischen Lagern kombiniert und eher abstrakte Diskussionen in Code verwandelt – und das Bindeglied ist die Betonung der Freiheit.

Im Moment stehen sich die politischen Lager ja ziemlich unversöhnlich gegenüber und die Meinungsfreiheit ist dabei unter Druck geraten.

Harry Halpin: Ich bin sehr skeptisch gegenüber dem extremen Libertarismus. Ich bin aber auch sehr skeptisch gegenüber der extremen Linken, die im Moment viel Kritik am Sprachgebrauch der Menschen üben. Natürlich sollten wir lernen, netter zueinander zu sein. Aber ich glaube nicht, dass wir Probleme wie Armut und Rassismus über die Sprache lösen können. Wir brauchen strukturelle Veränderungen, die nicht von oben aufgezwungen sind. Einfach, weil sich die Leute sonst nicht daran halten.

Schauen wir mal aus Nutzerperspektive auf das NYM-Netzwerk, das im Moment ja noch in einem frühen Stadium ist. Wie soll später eine typische User Journey aussehen?

Harry Halpin: Die wäre idealerweise komplett unsichtbar. Alles würde im Hintergrund ablaufen. Du machst deine Chat-App oder deinen Browser auf und dein Internet ist einfach privat. Wir wollen, dass die Leute ihr Internet so nutzen können, wie sie es gewohnt waren, bevor Google seine Massenüberwachung einschaltete – was eigentlich eine vernünftige Erwartung an die Privatsphäre ist. Es ist ja auch nicht verrückt, wenn ich mich mit dir in einem Raum befinde und erwarte, dass niemand unser Meeting abhört. Ich will dafür keinen Faradayschen Käfig benutzen müssen. Das Zukunft des Internets sollte eigentlich nicht radikal anders aussehen wird als das bestehende Internet.

Was ist bei Nym anders als beim TOR-Browser?

Harry Halpin: Unser Netzwerk ist nach meinem Wissen die einzige Software, die gegen so genannte „passive globale Gegenspieler“ resistent ist. Das bedeutet, dass jemand, der gottgleich wie zum Beispiel die NSA auf alle Datenpakete schaut und das gesamte Netzwerk beobachtet, nicht erkennen kann, wer mit wem spricht. Während TOR sehr gut geeignet für den Widerstand gegen Zensur ist, bieten wir vollständige Anonymität vor Dritten. Das nennt man „Third Party Unlinkability“.

Was kann man damit alles anstellen?

Harry Halpin: Um das zu verstehen, sollte man sich zunächst einmal die historische Entwicklung des Netzes vor Augen führen: Anfangs konnten die Leute keine Bankgeschäfte oder E-Commerce über das Internet abwickeln, weil es keine Verschlüsselung gab. Es war gefährlich, die Kreditkartennummer über das Internet zu verschicken. Und dann kam TLS und hat eBay und Amazon ermöglicht.

Mit dem Datenschutz wird es vermutlich ähnlich laufen. Es gibt alle möglichen Services, die davon abhängig sind, dass Menschen private Gespräche sowie Daten- und Finanztransaktionen durchführen können. Nimm das Teilen von medizinischen Daten gerade jetzt in der Corona-Pandemie: Ich möchte nicht, dass es an die Regierung oder gar meine Nachbarn durchsickert, wenn ich mit jemandem in Kontakt gekommen bin, der Corona hat. Das sollte privat bleiben, zwischen mir, meinem Arzt und der betreffenden Person.

An genau solchen Anwendungsfällen sind wir interessiert und arbeiten auch schon mit der Europäischen Kommission an einigen davon. Außerdem sprechen wir im Moment zum Beispiel mit einer Schweizer Bank, die begriffen hat, dass Google mehr über ihre Kunden weiß, als sie selbst. Da können wir weiterhelfen.

Die Schweiz hat sich inzwischen ja zu einem echten Mekka für die Kryptoszene entwickelt. Warum seid ihr mit Nym in die Schweiz gezogen?

Harry Halpin: Wir haben uns viele andere Länder angeschaut: Die USA sind relativ feindselig gegenüber Blockchain, Deutschland nicht, aber die Regeln sind zu unklar – und in der Schweiz gibt es einfach das beste regulatorische Umfeld für Blockchain-Projekte. Außerdem hat die Schweiz eine sehr gute Tradition in Sachen Datenschutz und möchte eine Art „Made in Switzerland“-Branding für Cybersicherheitstechnologien und einen gesamteuropäischen Fahrplan dafür entwickeln. Wir bekommen hier eine Menge Unterstützung von den lokalen Regierungen und können direkt mit den Finanzaufsichtsbehörden sprechen. Und dann gefällt uns natürlich auch die dezentrale Natur der Schweiz. Die Kantonsregierungen haben viel Macht, sie haben einige echt nachahmenswerte direktdemokratische Aspekte in ihrer Regierungsführung. Wir sitzen aber nicht in Zug, das ja den Ruf einer Steueroase hat, sondern in Neuchâtel. Hier war jahrhundertelang die Uhrenindustrie beheimatet und jetzt setzt die lokale Regierung auf die Blockchain. Es gibt hier sogar schon eine DAO, über die Mittel für öffentliche Projekte gesammelt und verteilt werden.

Hört sich idyllisch an – anders als deine Heimat, die du kürzlich auf Twitter als Dritte-Welt-Land tituliert hast…

Harry Halpin: Die USA ist ein Dritte-Welt-Land, ja. Viele Menschen leben in ihren Autos oder in einem der etlichen Obdachlosencamps. Die Leute haben Angst, in Quarantäne zu gehen oder sich auf Corona testen zu lassen, weil sie ihren Job verlieren könnten oder keine Gesundheitsversorgung haben. Eine zivilisierte Gesellschaft sollte den Menschen diese Art von Elend nicht zumuten. Oder schau dir die Kapitalverteilung an: Ein großer Teil des Reichtums wird durch eine sehr kleine Gruppe von Familien vereinnahmt, die die Regierung zu ihrem eigenen Vorteil geführt haben. Dazu gehörten sowohl die Bush- als auch die Clinton-Familie. Und mit der Trump-Familie sah es sogar so aus, als sei Amerika dabei, ein neues Turkmenistan oder ein weiteres Ägypten unter Mubarak zu werden.

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Ich würde so gerne eine Umkehrung dieses Trend sehen, und zwar nicht nur durch ein ordentliches Sozialsystem, sondern indem man jedem die Möglichkeit gibt, wieder ein Teil der Gesellschaft zu sein und Geld zu verdienen. Es mag sich verrückt anhören, aber ein offenes Kryptowährungssystem könnte hier wirklich die Lösung bedeuten. Schauen wir uns das Problem mal exemplarisch an: Uber macht tonnenweise Geld, die Aktionäre machen tonnenweise Geld, die Mitarbeiter aber verdienen sehr wenig. Wie wäre es, wenn die Mitarbeiter Anteil am Erfolg des Unternehmen hätten und an den Gewinnen partizipieren könnten? Und wenn sie früher einsteigen würden, bekämen sie mehr? Die Leute würden unternehmerischer werden und auch mal verrückte Wetten eingehen.

In gewisser Weise kehren wir damit zum Konzept der Kooperativen zurück, bei dem die Arbeiter selbst die Produktionsmittel besitzen. Das ist eine sehr mächtige Vision. Und jetzt haben wir die Technologie dafür, die global skalieren und die Individuen befähigen kann, Reichtum zu verbreiten, anstatt ihn wie bisher eher zu horten. Dies ist übrigens die Zukunft, die die Kryptoanarchie immer gewollt hat. Sie dreht sich nicht nur um eine negative Zukunft, in der man sich selbst verteidigen muss, sondern auch um eine positive, in der normale Menschen, die vielleicht nicht das Glück haben, in Berlin zu leben oder ans MIT zu gehen, sich bilden können, um die Welt zu verändern und durch die Macht des Internets finanziell erfolgreich zu werden.

Wie sieht die physische Seite einer solchen Zukunft deiner Meinung nach aus?

Harry Halpin: Die Schweiz ist hier schon ein ganz gutes Modell, finde ich. Man wird jedenfalls mehr Dezentralisierung auf lokaler Ebene sehen und mehr Wettbewerb zwischen den lokalen Regierungen. Ich könnte mir auch ein Modell vorstellen, das die Kurden „Demokratischen Konföderalismus“ nennen. Hier wird die Macht dezentral von unten nach oben organisiert. Und ich könnte mir eine Wiederbelebung der oft deprimierenden ländlichen Gegenden vorstellen, weil man jetzt von überall aus innovative Arbeit leisten kann. Warum also nicht dort leben, wo deine Eltern herkommen oder wo deine Freunde sind? Die Welt, die ich gerne sehen würde, schafft keine Mikro-Utopien für die Reichen, sondern Orte, an denen sich jeder selbst organisieren kann und gleiche Chancen hat. Und die Technologie sollte dabei helfen, die unterschiedlichsten Arten von Menschen miteinander zu verbinden.


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Titelbild: Michael Förtsch

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Wir kommen bei 1E9 immer wieder auf diesen Vorschlag zurück: Genossenschaftsmodell „digitalisiert“.

@ley.hans ab zur kryptoanarchie. Würde gerne die FDP mit solchen Konzepten offen umgehen sehen. Oder die Freien Wähler, die sich insbesondere für die nicht urbanen Regionen einsetzen. So gesehen ist kryptoanarchie ja eigentlich fähig bayerisches Politprogramm zu werden :sunglasses::sweat_smile:
Wer braucht da schon Piraten…

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Interessant. das klingt ja sehr ähnlich wie Urbit. Die Frage, wie auch bei Urbit, ist, wer die Hoheit der Contracts hat, denn die Person/ das Unternehmen kann auch die Topologie des Netzwerkes mitbestimmen und aufweichen (oder verfestigen).

Aber auch dafür gäbe es dank OpenSource Strategien, ja die Möglichkeit ein eigenes Netzwerk mit einer eigenen PKI zu initialisieren.

Interessant andere Unternehmen zu sehen, die Urbits alte Idee langsam aufgreifen und verfeinern.

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