Der Krypto-Aktivist Amir Taaki will das anonyme Betriebssystem für eine neue Gesellschaft bauen

Obwohl er als ein Hauptentwickler von Bitcoin gilt und die Kryptowelt maßgeblich geprägt hat, gehört Amir Taaki nicht zu ihren Stars. Das liegt auch daran, dass er vom Web3, wie es von Investoren gepusht wird, wenig hält, weil das philosophische Fundament fehle. Mit 1E9 spricht er über Kryptographie als einziges Schutzschild gegen Überwachung, die durch KI noch umfassender werden könnte, und über sein Projekt DarkFi. Es soll zum Betriebssystem einer neuen Gesellschaft werden. Denn Taaki rechnet mit dem Ende heutiger Nationalstaaten.

Ein Interview von Krischan Lehmann

1E9: Du hast in der Kryptowelt viele Steine ins Rollen gebracht, hältst dich aber, was die Eigenvermarktung angeht, ziemlich bedeckt…

Amir Taaki: Es gibt im Krypto-Space schon genug Personenkult. So lässt sich aber keine wirklich starke Bewegung starten. Wenn es Gottkönige gibt, kann sich niemand in seinen Fähigkeiten entwickeln. Für uns steckt hinter Krypto eine Philosophie, eine grundlegend demokratische Kraft. Deshalb versuche ich mich bewusst zurückzuhalten.

Außerdem ist das, was unsere Organisation tut, juristisch heikel und ziemlich subversiv. Deshalb ist es auch aus strategischer Sicht gut, keinen zentralen Angriffspunkt zu bieten. Es geht bei uns nicht um bestimmte Individuen, die Exekutivgewalt haben, wir sind mehr eine ideologische Organisation, in der eine Philosophie durch die Gemeinschaft verkörpert und von ihr weiterentwickelt wird. Es geht uns darum, eine bestimmte intellektuelle Kultur zu fördern.

In der Wikipedia wirst du als “anarchistischer Revolutionär” bezeichnet. Wie passt das zusammen mit eurem Konzept von Demokratie?

Amir Taaki: Im Grunde gibt es ja die drei großen ideologischen Strömungen, den Liberalismus, den Kommunismus und den Faschismus. Und es gibt die Anarchisten, die korrekt analysiert haben, dass staatliche Gewalt letztlich immer in diesem Ungeheuer, einem Leviathan, mündet, der die ganze Gesellschaft dominiert. Aber ihre Forderungen, den Staat sofort und um jeden Preis abzuschaffen, und ihre Ablehnung jeglicher Form von Autorität, sind einfach sehr utopisch. Deshalb waren die Anarchisten auch nie wirklich in der Lage, eine Roadmap für ihre Vision vorzulegen. Sie konnten ja nicht mal diese Vision artikulieren. Deshalb würde ich mich eher als einen “demokratischen Konföderalisten” bezeichnen.

Ein Begriff, der auf Abdullah Öcalan zurückgeht, den äußerst umstrittenen, in der Türkei lebenslang inhaftierten Führer der PKK, die auch auf der Terrorliste der EU steht. Du stammst ja ursprünglich aus England. Wie kamst du mit seiner Ideologie in Berührung?

Amir Taaki: Zu dieser Zeit war ich ein Libertärer, lebte in einer Kommune in Spanien und arbeitete als Entwickler im Kryptobereich. Dann hörte ich von der autonomen Region Rojava in Syrien, wo man nach dem Bürgerkrieg ein neues, basisdemokratisches Wirtschaftssystem bauen wollte, das auf Öcalans Schriften fußt. Und diese Idee hat mich gefesselt. Also bin ich selbst dorthin gereist, um mir das anzusehen.

Ich bin dann drei Jahre dort geblieben und habe in der Zeit viele philosophische Bücher gelesen, Nietzsche zum Beispiel, aber auch die klassischen Philosophen. Und mir wurde klar, dass der Kryptobereich zwar eine fundamentale technologische Weiterentwicklung darstellt, aber sein Potenzial nicht richtig ausschöpft, weil die philosophische Dimension fehlt. Also habe ich mich damit beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen, dass die staatlich vorangetriebenen Technologien eigentlich immer in Konflikt mit einer wirklich demokratischen Gesellschaft stehen.

Die Kryptographie hingegen verkörpert eine demokratische Technologie. Mit ihr können wir einen sprichwörtlichen „dunklen Wald“ erschaffen, einen Zufluchtsort im Cyberspace, an dem sich Cyberguerillas frei bewegen und in ihrem Freiheitskampf verstecken können.

Wir gehen davon aus, dass neben der ökonomischen oder militärischen Macht, der sogenannten Hard Power, gerade eine dritte Form von Macht entsteht – und das ist eben die kryptographische. Durch den Hype von Kryptowährungen hat es in den letzten Jahren auch massive Investments in die Weiterentwicklungen von Kryptographie an sich gegeben, wie zum Beispiel in Multiparty-Computation, Homomorphic Encryption oder Zero Knowledge Proofs. Das wiederum eröffnet völlig neue “Design Spaces” für breitflächige anonyme Anwendungen, die vorher nahezu unmöglich waren. Wir nennen diese neue Disziplin „Anonymous Engineering“.

Welche Use Cases machen diese Verfahren möglich?

Amir Taaki: Zero Knowledge Proofs zum Beispiel sind wirklich mächtig – vor allem, weil sie komplett generisch funktionieren. Man muss kein Mathematiker mehr sein, um sie zu verwenden. Wenn ich mit dir Bitcoin gegen Monero tausche, kann ich beweisen, dass ich dir in dem Moment Bitcoin senden werde, in dem du das Gleiche mit Monero tust. Wir fassen unsere Beweise in einer Transaktion zusammen und in diesem Moment passiert der Swap.

Ein komplexeres Beispiel: Es gibt eine DAO, eine Dezentrale Autonome Organisation, in der jeder, der eine bestimmte Anzahl an Token besitzt, einen Vorschlag einreichen kann, wie mit dem Vermögen der DAO umgegangen wird. Mit ZKProofs wird dieser Vorschlag in der Blockchain gespeichert, aber nur Mitglieder der DAO können ihn entschlüsseln. Und wer kein Mitglied ist, kann zwar sicher sein, dass es ein gültiger Vorschlag ist, er muss aber nicht einmal erfahren, um welche DAO es sich überhaupt handelt. Man kann also Daten miteinander in Beziehung setzen, ohne sie zu kennen.

Mit Homomorphic Encryption kann man zum Beispiel verschlüsselte Daten auf der Blockchain auswerten, ohne die Daten selbst zu kennen. Damit lassen sich verschiedene ZKProofs miteinander kombinieren. Und mit Multiparty-Computation lassen sich Auktionen auf verschiedenen Servern durchführen, bei denen keiner der Server die Gebote kennt, und am Ende wird gemeinsam das höchste errechnet. Es ist eine ziemlich unglaubliche Materie! Solche Verfahren hat es zuvor nie gegeben.

Kryptographie kann Freiräume im Cyberspace bewahren.

Was dem Staat natürlich nicht gefallen kann, weil ein „dunkler Wald“ schwer zu kontrollieren ist – und für die Bürger auch nicht unbedingt sicher scheint.

Amir Taaki: Wir sehen ja gerade, wie zum Beispiel die USA versuchen, gegen die Krypto-Sphäre vorzugehen. Für uns ist Kryptographie aber einfach die beste Absicherung gegen das dystopische Szenario, in dem Künstliche Intelligenz zu einer staatstragenden Technologie wird. Kryptographie kann Freiräume im Cyberspace bewahren und ist damit wirklich eine große Erfindung in der Geschichte der Menschheit, vergleichbar mit der Druckerpresse oder dem Schießpulver, die ja auch die Machtverhältnisse entscheidend verändert haben.

Inwiefern sind sie vergleichbar?

Amir Taaki: Im Mittelalter brauchte man für die Kriegsführung spezielle Waffen und Rüstungen. Es gab viele verschiedene Kriegsherren und Verbünde von Rittern. Und sie hatten unterschiedliche Flaggen, Banner und Loyalitätskodizes, die die sozialen Hierarchien aufrecht erhielten. Aber mit der Erfindung des Schießpulvers konnte plötzlich jeder, der eine Schusswaffe hatte, mitkämpfen. Damit nahm die soziopolitische Bedeutung der Kriegsführung ab und die ökonomische zu. Handel und die Anhäufung von Reichtum wurden wichtiger. Und vor allem gab es plötzlich sozusagen eine große Rendite auf die Anwendung von Gewalt, was letztlich zur Entwicklung von Nationalstaaten führte. Der Staat trat an die Stelle der Adeligen und handelte einen Sozialvertrag mit seinen Bürgern aus.

Dann folgte das Industriezeitalter mit seinen großen vertikal integrierten Systemen, in denen die Unternehmen die komplette Wertschöpfungskette, von der Rohstoffgewinnung bis zum Vertrieb, unter ihrer Kontrolle hatten. Und jetzt erleben wir den Übergang ins Informationszeitalter, wo zum einen das alte Fabrikmodell mit seinen menschlichen Arbeitern durch Roboter ersetzt wird und andererseits der Fokus zunehmend auf fähigkeitenbasierter Arbeit liegt.

Mit der Entwicklung von Kryptowährungen entsteht jetzt eine neue Assetklasse, die nicht besteuert werden kann und immun ist gegenüber staatlichem Zwang. Staatliche Gewalt wird in der Kryptosphäre drastisch abnehmen, während der Wert von Kryptotechnologien mit jedem Entwicklungsschritt sprunghaft ansteigen wird.

Darauf werden die Staaten reagieren.

Amir Taaki: Darauf werden die Staaten natürlich reagieren. In Europa wurde kürzlich ja ein Gesetzesentwurf gegen die Privatsphäre in Chats vorgelegt und in den USA wird die Steuerbehörde IRS zunehmend mit der CIA zusammenarbeiten. Das wird aber letztlich nichts bewirken, weil die Gesellschaft immer mehr Mittel zur ökonomischen Unabhängigkeit bekommt.

Es werden parallele Cyber-Marktplätze entstehen, so genannte Agoras, auf denen neue Gesellschaften gedeihen können. In DAOs werden die Menschen ihr Kapital kollektiv und anonym verwalten können. Alle Transaktionen finden versteckt statt, die Geldmengen bleiben ebenso verborgen wie die Kontostände und die Marktteilnehmer selbst. Und trotzdem werden die Leute in der Lage sein, ihre Finanzaktionen zu koordinieren, eigene ökonomische Regelwerke zu entwickeln und so eine finanzielle Souveränität zu erreichen. Dann wird es keine Rolle mehr spielen, dass die Staaten die Kontrolle über die Gelddruckmaschinen des Industriezeitalters haben. Am Ende wird das Fiatgeld wie der Dollar oder der Euro durch digitales Geld ersetzt – ein Geld, das lediglich auf mathematischen Algorithmen und „Smart Contracts“ basiert.

Und was wird in deinem Szenario aus den Nationalstaaten?

Amir Taaki: Die stammen aus einer Zeit, in der Begriffe wie „Command and Control“ und zentrale Planung relevant waren. Wir reden heute aber eher von „Schmetterlingseffekten“ oder „Tipping points“. Auch in der Wissenschaft geht man inzwischen viel häufiger von komplexen Systemen aus, die nicht mehr designed oder zentral geplant werden können, sondern evolvieren. Im Grunde werden sich aus diesen digitalen Marktplätzen populäre demokratische Governance-Modelle und sehr effiziente Peer-to-peer-Netzwerke entwicklen. Krypto bedeutet also für den Staat: „Fick die Gesetze!“

Man wird versuchen, Kryptowährungen zu stoppen, weil es bei ihnen in der Essenz darum geht, Dinge zu umgehen, sie sind grundlegend antagonistisch. Und inzwischen gibt es sogar Staaten, die ihre US-Staatsanleihen oder ihre Dollars verkaufen und in Kryptowährungen einsteigen. Ich war kürzlich in Ägypten und dort war der an den Dollar gebundene Stable Coin USDC paradoxerweise um 16 Prozent teurer als der Dollar selbst. In Nigeria sollen es sogar 25 Prozent sein. Das zeigt, dass die Leute dort heute schon Kryptowährungen bevorzugen – einfach, weil sie wesentlich liquider sind. Vor einigen Jahren hatten nur die reichen Leute ihre Offshore-Steueroasen, mit Kryptowährungen stehen diese in gewisser Weise jedem offen. Kryptowährungen sind in den meisten Ecken der Welt einfach zu profitabel und zu nützlich, um wieder zu verschwinden.

Und in der westlichen Welt?

Amir Taaki: Da veranstalten viele Krypto-Projekte einen Drahtseilakt. Sie siedeln sich in Steueroasen an, betreiben eine regulatorische Arbitrage und versuchen gleichzeitig eine Banklizenz im Westen zu bekommen oder ein traditionelles Finanzprodukt wie einen Bitcoin-ETF genehmigen zu lassen. Und das wird dann von den Behörden geflissentlich ignoriert oder jahrelang hinausgezögert, während man nebenbei immer weitere kryptofeindliche Gesetzgebungen entwirft.

Es wird zwangsläufig irgendwann in einem offenen Konflikt münden.

Es wird zwangsläufig irgendwann in einem offenen Konflikt münden, eben weil die Logik der staatlichen Gewalt durch Krypto so fundamental in Frage gestellt wird. Und dann wird sich der Kryptobereich aufspalten, in einen stark regulierten Teil, der an der Oberfläche agiert und so gesetzlich behindert wird, dass er eigentlich kaum zu nutzen ist. Und es wird eine DarkFi[nance]-Seite, einen freien, unregulierten Underground geben, in dem Krypto sein wahres Wesen zeigen kann – als parallele, anonyme Peer-to-Peer-Netzwerke.

Aber ist das nicht ein Wunschdenken? Der Staat könnte ja allen Banken, Börsen und Geschäften jeglichen Umgang mit Kryptowährungen einfach untersagen. Und irgendwie muss ja Kapital in den Kryptobereich kommen…

Amir Taaki: Ein großer Teil der Weltbevölkerung hat heute noch nicht mal ein Bankkonto. Deshalb haben viele Leute ein echt Bedürfnis nach Alternativen. In vielen Ländern des Mittleren Ostens, in Afrika oder Lateinamerika gibt es sehr autoritäre Regime und beinahe wertlose, hochinflationäre Währungen. Die Menschen dort nutzen hauptsächlich Bargeld und sie haben keinen Zugang zu den internationalen Finanznetzwerken. Deswegen entstehen dort gerade viele Krypto-Handelsplätze. Kryptowährungen können nicht gestoppt werden. Man kann sie in den Untergrund drängen und somit dafür sorgen, dass sie auf subversivste Weise genutzt werden, aber letztlich sind sie unausweichlich. Ich sehe also keinen Grund darüber nachzugrübeln. Wir sollten lieber die Möglichkeiten von Kryptowährungen umfassend erforschen.

Okay, dann lass uns mal über dein neues Projekt DarkFi reden. In eurem Manifest bezeichnet ihr es als ein „demokratisches ökonomisches Experiment, ein Betriebssystem für die Gesellschaft“. Wie sieht das genau aus?

Amir Taaki: Dazu muss ich kurz ausholen: Als sich der Westen in den 90ern den Chinesen annäherte, war die Hoffnung groß, dass China uns dadurch ähnlicher werde. Inzwischen ist es eher umgekehrt: Wir werden China ähnlicher. Man fand das chinesische „Social Credit System“ eine gute Idee und entwickelt jetzt auch in der westlichen Welt digitale Zentralbankwährungen (CBDCs), die eine ähnliche Überwachung wie in China möglich machen. Und man denkt laut über ein bedingungsloses Grundeinkommen nach. In der Kryptowelt nennen wir sowas einen „Airdrop“, kostenloses Geld, das unter den Leuten verteilt wird, damit sie die Systeme nutzen. Aber dieses komplett zentralisierte, autoritäre Fiat-Finanzsystem ist einfach ein schlechtes ökonomisches Modell.

Und gerade sehen wir, wie China mit seinem Geldsystem in Länder wie Nigeria und Äthiopien expandiert. Nicht nur durch den Krieg in Russland ist der Prozess der „De-Dollarisation“, der Ablösung des Dollars als Leitwährung, in vollem Gange. In einer solchen Arena konnten früher nur Nationalstaaten mitspielen. Mit Kryptowährungen können wir das jetzt auch und bauen mit DarkFi einfach unser eigenes Finanzwesen, um darüber unsere parallelen Netzwerke zu entwickeln.

Das klingt ja nach einem größeren Unterfangen. Wo fangt ihr an?

Amir Taaki: Wir haben jetzt zum Beispiel einen völlig anonymen Chat. So etwas gab es vorher nie. Bei einem Messenger wie Signal zum Beispiel, der ja als anonym gilt, sind alle Nachrichten immer noch mit einer Telefonnummer verknüpft. Bei unserem Chat gibt es keine ID. Alles läuft peer-to-peer, jede Nachricht ist verschlüsselt und jeder kann mitreden.

Und wir haben die erste komplett anonyme DAO gebaut. DAOs sind sehr mächtig, weil sie es einer Gruppe von Leuten ermöglichen, gemeinsam Kapital einzusammeln und dann kollektiv zu entscheiden, wie es verwendet werden soll – wie an einem Pokertisch, wo du mit einem großen Stack plötzlich die anderen Spieler dominieren kannst. Zuvor haben wir mit der AssangeDAO – die das Ziel hatte, Julian Assange mit allen möglichen Mitteln aus dem Gefängnis zu holen – schon einmal 55 Millionen Dollar an Finanzmitteln eingesammelt. Aber dadurch, dass sie komplett öffentlich war, konnten wir unser Versprechen nicht richtig einlösen. Das war der Impetus, jetzt eine komplett anonyme DAO zu bauen, um uns in parallelen Struktur koordinieren zu können.

Und was steht noch auf der Road Map?

Amir Taaki: Wir haben schon erste Prototypen für ein Task-Management-System, das peer-to-peer funktioniert, weil wir Plattformen wie Github nicht verwenden wollen. Außerdem gibt es Prototypen für ein Wiki und ein Buchhaltungssystem. Für die Zukunft sind Swap-Systeme, Börsen und Marktplätze für Informationen geplant. Also eine Menge Infrastruktur, die die Leute dann komplett anonym und in demokratischer Weise verwenden können.

Werdet ihr auch einen eigenen Token haben?

Amir Taaki: Das soll die Community entscheiden.

Aber wärst du dafür?

Amir Taaki: Ich werde hier nicht spezifisch über einen DarkFi-Token reden, aber Token sind im Grunde schon nützlich. Kreative Menschen hatten schon immer das Problem, dass sie viel Wertvolles für die Gesellschaft schaffen, aber kaum einen Weg finden, an diesen Werten zu partizipieren. Wir haben viele Jahre lang an freier Software gearbeitet, entsprechend arm und eingeschränkt in unseren Wachstumsmöglichkeiten sind wir immer gewesen. Da können Token natürlich helfen.

Du warst ja lange in der Open Source-Bewegung unterwegs. Wie beurteilst du sie heute?

Amir Taaki: In unserer eigentlichen Mission haben wir versagt. Viele Leute sind der Meinung, dass Open Source-Software doch ein voller Erfolg sei, weil Android von Linux abstammt und auch Google die Software auf seinen Servern einsetzt. Aber ich habe nicht 10 Jahre lang wie ein Sklave gearbeitet, um einige Unternehmen reich zu machen. Ich wollte die Welt mit kostenloser Software und technologischer Freiheit versorgen.

All die Leute, die an der Entwicklung des Computers und des Internets maßgeblich beteiligt waren, wie der Informatiker John McCarthy oder sogar schon Ada Lovelace Mitte des 19. Jahrhunderts, sie alle waren Visionäre und sahen den großen Nutzen, den Computer für die menschliche Gesellschaft bringen konnten. Und plötzlich, mit der Entwicklung des PCs in den 80ern, dreht sich das alles und es geht nur noch ums Geld.

Auch die Open Source-Bewegung ist irgendwann vom Konzept der kostenlosen Software abgerückt, um die Unterstützung des Mainstreams zu bekommen.

Auch die Open Source-Bewegung ist irgendwann vom Konzept der kostenlosen Software abgerückt, um die Unterstützung des Mainstreams zu bekommen. Heute ist das Silicon Valley-Modell überall: Man entwickelt eine Technologie, die möglichst viele User haben soll, weil jeder User immer auch ein kleines bisschen mehr Profit bedeutet. Es geht also nicht mehr darum, etwas wirklich Herausragendes zu kreieren, sondern um eine abgespeckte Software, die jeder Dummkopf verwenden kann. Deswegen haben wir diese ganzen beschissenen Apps, die gar nicht wirklich produktiv zu nutzen sind.

Bei Linux hingegen geht es nicht um ein Geschäftsmodell, sondern um eine Infrastruktur. Es geht um Composability, die uns dazu ermächtigt, uns von technologischen Zwängen zu befreien und unsere eigenen ökonomischen Netzwerke zu bauen. Leider sind wir von dieser Philosophie abgerückt und Linux versucht, Windows und MacOS zu kopieren. Auch ein großer Teil des Krypto-Space ist heute völlig korrumpiert durch die Silicon Valley-Ideologie. Alle Projekte verwenden proprietäre Software, alle haben ihren Discord-Server, tappen in die gleiche Falle und stellen Müllsoftware her.

Und jetzt kommt noch Künstliche Intelligenz dazu. Wie bewertest du das?

Amir Taaki: Eine staatenbasierte Zivilisation hat immer die Tendenz, Monokulturen zu erschaffen, eine Art Wüste…

Warum führt KI in eine Monokultur? Man kann sie auch als Werkzeug betrachten – mit dem man gute und schlechte Sachen machen kann.

Amir Taaki: Nicht die KI selbst ist das Problem, sondern der „Surveillance Capitalism“, das Geschäftsmodell der Überwachung – von sozialem Scoring bis hin zu automatisierten Waffensystemen. Davon wird ja die Entwicklung von KI hauptsächlich getrieben. Und dagegen ist die Kryptographie das beste Mittel. Mit ihr kann man sich einer solchen Dystopie widersetzen und eine neue Frontlinie in unserem Freiheitskampf aufmachen.

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Aber wenn ich mich heute in meinem Umfeld umhöre, dann scheren sich die meisten Leute wenig um Privatheit. Ihnen reicht schon, wenn in WhatsApp steht, dass die Nachrichten end-to-end verschlüsselt sind. Glaubst du, dass es überhaupt möglich ist, die Leute für das Thema zu sensibilisieren?

Amir Taaki: Um die Leute geht es mir gar nicht. Es gibt Menschen, die Anonymität wirklich brauchen. Und für die baue ich eine neue Infrastruktur.

Du willst also keinen „iPhone-Moment der Kryptographie“ erreichen?

Amir Taaki: Ich glaube, dass ein großer Teil des Marktes noch nicht erschlossen ist.

Und wenn wir jetzt in die Kristallkugel des Web schauen, was siehst du da?

Amir Taaki: Dass das Web als Ganzes ein Fehler war und Web3 nur durch Venture Capital getragen wird. Es hat eine völlig falsche Dynamik, die es letztlich ausbremst.

Eine Sache habe ich jetzt noch nicht verstanden: Planst du parallele Strukturen oder eine Revolution?

Amir Taaki: Dafür müsste sich die Gesellschaft einem radikalen Wertewandel unterziehen. Und Menschen tun sich schwer, ihrer mentalen Trägheit zu entkommen – ähnlich den Leuten, die in der Sowjetunion in einem Stadium der „HyperNomalisation“ aufgewachsen sind und sich gar kein anderes System vorstellen konnten. Ich habe oft mit Leuten diskutiert, die Krypto nur mit Steuerhinterziehung und Geldwäsche in Verbindung bringen, und irgendwann ist mir klar geworden, dass wir letztlich auf einer moralisch-metaphysischen Ebene sprechen, auf der rationale Argumente gar nicht gelten. Man kann diese Leute gar nicht erreichen, weil sich ihr gesamter Denkrahmen in einem anderen Paradigma befindet und sie sich an der alten Ordnung festklammern. Und die zerfällt gerade.

Wie sieht dann das neues Paradigma aus?

Amir Taaki: Wir bewegen uns von einer unipolaren Weltordnung, die aus dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Sieg des Liberalismus, dem sogenannten „Ende der Geschichte“ resultierte, in eine multipolare Welt – mit aufstrebenden rivalisierenden Supermächten, wie China oder Russland. Und auch im Westen zeichnet sich eine Kluft zwischen Europa und den atlantischen Staaten ab. Und wenn solche Verschiebungen stattfinden, gibt es geopolitisch immer Räume für unabhängige politische Gebilde und neue Bewegungen – wie wir ja jetzt schon an den Erfolgen der Rechtsradikalen in einigen westlichen Staaten sehen. Wenn die EU zusammenbricht, könnten zum Beispiel neue neofeudale Mini-Staaten entstehen. Aber aus den Ruinen der liberalen Ordnung könnten sich auch emanzipatorische Freiheitsbewegungen entwickeln. Und unser Job ist es jetzt, mit Hilfe von Technologie aus dem Modell der Nationalstaaten auszubrechen und eine neue Zivilisation zu bauen, die im Kern wirklich demokratisch ist.

Collage: Michael Foertsch, 1E9

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