Das Start-up Longshot Space will eine 10-Kilometer-Kanone bauen, um Fracht ins All zu schießen

Raketen sind aufwendig, teuer und fehleranfällig. Daher will ein Team in den USA eine einfache Alternative anbieten: Es plant eine riesige Luftdruckkanone, um Satelliten, Experimente und andere Nutzlasten in den Weltraum zu schießen. Sie soll zehn Kilometer lang und verdammt laut werden. Zum Team gehört auch ein Luft- und Raumfahrtingenieur aus Deutschland. Wir haben mit ihm und dem Gründer von Longshot Space gesprochen.

Von Michael Förtsch

Die Zukunft der Menschheit liegt im Weltraum. Nicht nur, aber auch. Deshalb ist im Kosmos immer immer mehr los. In den letzten zehn Jahren wurden mehr Satelliten in die Erdumlaufbahn gebracht als in den knapp 50 Jahren zuvor. Mehr als 11.000 kreisen derzeit um die Erde – und die Zahl steigt ständig weiter. Parallel dazu planen Raumfahrtagenturen und zahlreiche Start-ups aus verschiedenen Ländern Raumstationen, Solarkraftwerke und sogar Fabriken im Orbit zu platzieren. Für all das muss natürlich Material von der Erde aus in die Höhe gebracht werden. Und das geht bisher nur mit Raketen, die die Erdanziehungskraft überwinden, indem sie hunderte oder sogar tausende Tonnen Treibstoff verbrennen. Das ist nicht nur aufwändig und riskant, sondern auch teuer.

Deshalb arbeiten Ingenieure und Forscher weltweit an neuen Methoden, um Lasten ins All zu hieven. So plant das Start-up SpinLaunch eine gigantische Zentrifuge, die Dartpfeil-artige Geschosse in die Höhe schleudert. Die Firma Dawn Aerospace will ein Raketenflugzeug bauen, das wie ein Passagierflieger starten und landen kann. Eine ganz andere Idee hat ein kleines Team aus Oakland, Kalifornien. Sie ist zwar deutlich weniger komplex, dafür aber auch deutlich größer. Denn die derzeit rund 23 Mitarbeiter des Start-ups Longshot Space wollen nicht weniger als die größte Druckluftkanone der Welt bauen, um damit „alles Mögliche ins All zu schießen“, wie Gründer Mike Grace zu 1E9 sagt. Mehrere Kilometer lang und ziemlich laut soll der Massenbeschleuniger werden.

Militärische Inspiration

Sonderlich neu ist die Idee einer Weltraumkanone nicht. Das gibt Mike Grace gerne zu. Der Ökonom und Molekularbiologe sagt, er habe von dem Konzept einer Weltraumkanone erstmals 2010 bei einem Vortrag des Lawrence-Livermore-Physikers John Hunter gehört. Hunter schlug vor, eine etwa einen Kilometer lange Kanone in der Nähe des Äquators im Ozean zu versenken. Mit einer gewaltigen Treibladung könnten kleine Kapseln auf über 20.000 Kilometer pro Stunde beschleunigt und dadurch ins All geschossen werden. „Ich sah darin einige sehr gute Einfälle, aber auch einige Fehler“, sagt Grace. Später hörte er von anderen Riesenkanonen. Im Zweiten Weltkrieg entwickelten deutsche Waffenkonstrukteure etwa die sogenannte V3, die 140-Kilogramm-Geschosse über 160 Kilometer weit schießen konnte.

In den 1960er Jahren baute der Waffenkonstrukteur Gerald Bull für die US-Armee eine Kanone, die bis zu 100 Kilometer weit schießen konnte – bis an den Rand des Weltraums. Ende der 1980er Jahre wollte er für Saddam Hussein mehrere Superkanonen bauen. Eine davon, so berichteten damals Boulevardmedien, hätte genug Wumms gehabt, um Satelliten aus der Umlaufbahn zu schießen. All das, sagt Grace, habe ihn in den vergangenen Jahren immer wieder über eine Weltraumkanone nachdenken lassen. Er habe in seiner Garage mit PVC-Rohren an einem Proof-of-Concept gebastelt, gerechnet und theoretisiert. Dabei sei er zu dem Schluss gekommen, dass eine solche Kanone machbar ist – und auch sinnvoll. Als Alternative zu Raketen.

„Das Problem mit Raketen ist, dass sie fliegen müssen“, sagt Grace. „Es sind wirklich verrückte Vehikel, die zu 95 Prozent aus Treibstoff bestehen, der benötigt wird, um vor allem diesen Treibstoff in die Luft zu bringen.“ Nach Ansicht des Start-up-Gründers wären Raketen für die meisten Aufgaben, für die sie eingesetzt werden, so ziemlich das ineffizienteste Mittel. „Ich glaube, der Grund, warum wir heute Raketen benutzen, um Lasten in den Weltraum zu bringen, ist, dass sie auch so gute Waffen sind“, sagt Grace. Die militärische Forschung der letzten 80 Jahre, der Wettlauf ins All und hunderte Milliarden an Verteidigungsausgaben hätten jahrzehntelang jede andere praktische Alternative verdrängt, weil Geld und Effizienz praktisch keine Rolle spielte. Erst jetzt, mit der privaten Raumfahrt, wo der Preis pro Kilogramm Nutzlast den Ausschlag gebe, ändere sich das.

Hilfe aus Deutschland

Einer, der Mike Grace dabei hilft, seine Vision einer Weltraumkanone zu verwirklichen, ist Marius Mayer aus dem bayerischen Wemding. Er war früher Fluggerätmechaniker bei Airbus. 2019 zog es ihn ins Silicon Valley, um Luft- und Raumfahrt zu studieren. Während dieser Zeit stieg er zunächst für ein Praktikum und dann ganz bei Longshot Space ein. Einer seiner Professoren hatte ihm die Stelle vermittelt. „Damals waren wir gerade mal zu viert oder fünft“, sagt Mayer zu 1E9. „Von der Firma war noch nicht viel zu sehen.“ Auch der Idee von Grace stand er zunächst skeptisch gegenüber. „Ja, ich war schon perplex, wie das funktionieren soll“, sagt der Bayer. „Ich habe lange überlegt, ob das realistisch ist.“ Er habe sich dann jedoch von den Zahlen, dem geplanten Aufbau und nicht zuletzt dem passionierten Gründer überzeugen lassen.

Aber Mayer sagt auch ganz offen, dass es „bestimmte Punkte in unserer Technik gibt, die schwierig sind“. Denn die Konstruktion der Kanone ist unkonventionell. Das fängt schon damit an, dass der Lauf nicht in den Himmel ragt oder gebogen sein wird, sondern parallel zum Boden verläuft. Das abgefeuerte und auf einem Schienensystem aufgesetzte Projektil soll erst durch ein Lenksystem und eine Schwerpunktverlagerung nach oben steuern. Dazu soll in der aus Stahlrohren gebauten Kanone durch mehrere Pumpen ein Vakuum erzeugt werden – ähnlich wie beim Hyperloop –, so dass das Projektil praktisch keinen Luftwiderstand erfährt. Eine Abdeckung aus Polyesterfolie soll die Mündung des Laufes abdichten.

Das Projektil, das beispielsweise einen Satelliten enthalten kann, wird nicht von einer Explosion beschleunigt. Stattdessen will das Team von Longshot Space auf ein unter extremem Druck stehendes Gas – wie Wasserstoff oder Stickstoff – setzen, das hinter dem Projektil freigesetzt wird. „Das allein reicht aber nicht aus, um die nötige Geschwindigkeit zu erreichen“, sagt Mayer. Deshalb soll das Projektil entlang des Kanonenrohrs in Abständen von nur wenigen Metern immer weiter beschleunigt werden. Ein Konzept, das in ganz ähnlicher Weise bereits bei der V3 und den Geschützen von Bull zum Einsatz kam. Durch Düsen an den Seiten der Rohre sollen zusätzliche Gasladungen freigesetzt werden.

Diese stufenweise Beschleunigung soll auch sicherstellen, dass empfindliche Nutzlasten nicht beschädigt werden. Je länger das Rohr und je gleichmäßiger die Düsen verteilt sind, desto sanfter können die Beschleunigungsphasen ablaufen. Das ist ungefähr so, als würde man jemanden, der auf einer Schaukel sitzt, immer wieder anstoßen. Mit jedem Stoß wird er schneller und kommt höher. Um jedoch einen präzisen Geschwindigkeitsanstieg und maximalen Druck zu gewährleisten, muss das Gas punktgenau in Bereiche des speziell konstruierten Projektilhecks expandieren.

„Das Schwierige dabei ist aber das Timing“, sagt Mayer. „Denn wenn das Projektil eine Geschwindigkeit von Mach 5 hat – das sind mehr als 6.000 Kilometer pro Stunde – dann haben wir nur eine Millisekunde Zeit, um das Ventil des Boosters zu öffnen.“ Dauert das zu lange, feuert das Gas zu weit hinter dem Projektil und der Schubs geht verloren. Genau das war eines der großen Probleme, die Longshot Space lösen musste. Es gab keine Ventile, die so schnell angesteuert und geöffnet werden können. Das Team musste eine Alternative finden. Statt klassischer Ventile entwickelte es daher Membranen, die die Hochdruckbehälter entlang des Laufs verschließen und über einen Mechanismus, der durch eine Laserschranke ausgelöst wird, zum Platzen gebracht werden können. Wie genau, das ist ein Betriebsgeheimnis.

Die eigens entwickelte Technik soll die Zündzeit der Druckbehälter auf weniger als eine halbe Millisekunde verkürzen. Das konnte das Unternehmen erfolgreich testen. Denn Longshot Space hat bereits einen Prototyp seiner Weltraumkanone im Einsatz, der nach genau den gleichen Prinzipien wie die geplante Riesenversion funktionieren soll. Die nächste Kanone ist daher bereits in Planung.

Und Schuss

Mach 4,3, das sind 5.309 Kilometer pro Stunde. Auf diese Geschwindigkeit konnte Longshot Space ein 250 Gramm schweres Testgeschoss von 15 Zentimetern Durchmesser bereits mit Druckluft beschleunigen. „Einige Fragmente haben sogar Mach 4,6 erreicht“, sagt Mike Grace. Dabei ist die aktuelle Kanone gerade einmal 20 Meter lang und hat nur drei Booster. Sie steht direkt vor der Werkstatt von Longshot Space in drei miteinander verbundenen Schiffscontainern und feuert in einen Tresor mit 34 Zentimeter dicken Stahlwänden, Betonplatten und einem Meter Teppichboden. Das ist auch nötig, wie Marius Mayer sagt. „Beim ersten Schuss damit haben wir es tatsächlich geschafft, den Tresor umzuwerfen und drei Meter zurückzuschieben“, erzählt Mayer lachend. „Es ist nichts Gefährliches passiert. Aber wir waren wirklich überrascht, welche Kraft die Kanone entwickelt.“

Longshot

Laut Mike Grace könnte die Kanone mit Wasserstoff als Treibmittel sogar Mach 5 erreichen. Doch das wäre am Standort der jetzigen Testanlage etwas zu riskant. Deshalb soll schon bald mit dem Bau eines deutlich größeren Prototyps begonnen werden – und zwar in der Wüste. Unweit des Flughafens des 2.000-Einwohner-Ortes Tonopah in Nevada soll eine mindestens 500 Meter – möglicherweise aber auch 1.000 Meter – lange Variante der Kanone mit einem Durchmesser von 70 Zentimetern gebaut werden. Dort soll sie auch mit ihren lauten Überschallknallen kaum jemanden stören. Mit der Konstruktion soll möglichst im Oktober begonnen werden, im kommenden Jahr soll das System einsatzbereit sein. Der erste Schuss könnte im Frühjahr oder Sommer 2025 fallen.

Zunächst soll die Kanone Mach 5, dann Mach 10 erreichen. „Wir hoffen aber, dass wir Mach 15 schaffen“, sagt Grace. Dann könnte die Kanone bereits vielfältig kommerziell genutzt werden und Geld für die Weiterentwicklung des Projekts erwirtschaften. Sie könnte dort zum Einsatz kommen, wo Windkanäle an ihre Grenzen stoßen. Zum Beispiel beim Testen von Hitzeschilden, Sensor-, Kommunikations- und Steuergeräten sowie Modellen von Überschallflugzeugen. Von da aus sei es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Vollversion der Weltraumkanone, hofft der Gründer. „Natürlich hängt viel davon ab, was wir aus der 500-Meter-Version lernen, aber ich glaube nicht, dass das Weltraumsystem viel komplexer wird“, sagt er. „Aber es wird viel größer.“

Günstiger als Raketenstars?

Etwa zehn Kilometer soll die fertige Weltraumkanone messen. Vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger. Die vielen Kilometer Rohrleitungen sind nötig, um die zahlreichen Beschleunigungsstufen so zu tackten, um eine möglichst flüssige Temposteigerung zu ermöglichen. Mit etwa Mach 25 – das sind rund 31.000 Kilometer pro Stunde – sollen die Projektile schließlich die Mündung verlassen, um zielgenau ins All zu fliegen. „Wir wollen mindestens 500 Kilogramm hochschießen können“, sagt Grace. „Irgendwann möchte ich aber bis zu 20 Tonnen schaffen.“

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Ziel von Longshot Space ist es, die Startkosten auf 100 und dann auf 10 US-Dollar pro Kilogramm Nutzlast zu senken. Vor allem dadurch, da das Druckgas billig ist, die Wartung der Anlage wenig kosten und die Kanone mehrmals am Tag feuern können soll. Zum Vergleich: Derzeit kostet es mehr als 2.000 US-Dollar, ein Kilogramm mit einer Falcon-9-Rakete in den Weltraum zu befördern. Doch nicht nur der Einsatz der Kanone soll günstig sein, sondern auch ihr Bau. „Ich denke, die Weltraumversion des Systems wird zwischen 100 und 250 Millionen Dollar kosten“, schätzt Grace. Abgesehen von einigen raffinierten Eigenentwicklungen wie den Ventilen bräuchte man schließlich vor allem Stahlrohre und Beton. Und natürlich Land… ohne Menschen und mit möglichst wenig Tieren. Denn die fertige Weltraumkanone wird laut.

„Sie wird wohl sogar extrem laut“, bestärkt Marius Mayer. Bereits der aktuelle Prototyp klinge, als ob eine Waffe in nächster Nähe abgefeuert wird. Die finale Version dürfte wohl mit einer Artilleriekanone oder einem Donnerschlag vergleichbar sein. Daher soll die Weltraumkanone auch nicht in den USA gebaut werden, sondern in einem möglichst entlegenen und leeren Teil von Australien. „Selbst Texas ist im Vergleich mit Australien dicht besiedelt“, scherzt Grace. Im Visier hat das Team die Nordküste, wo mehrere militärische Gelände adaptiert werden könnten. Dort könnte die Kanone auch direkt auf das offene Meer ausgerichtet werden, um Lärmbelästigung und Gefahr bei einem Fehlstart zu reduzieren.

Läuft alles nach Plan, könnte die Weltraumkanone ab 2030 gebaut werden. „Ich hoffe aber eher auf 2028“, sagt Mike Grace. Aber das wäre natürlich nur ein Teil des Weges. Dann muss sich Longshot Space erst einmal beweisen und zeigen, dass die Luftdruckkanone auch zuverlässig und sicher funktioniert. „Ich glaube nicht, dass uns die Leute ernst nehmen, bevor wir nicht etwas in die Umlaufbahn gebracht haben“, sagt der Gründer. „Aber wenn wir das schaffen und den Startpreis um einen zweistelligen Betrag unter den von SpaceX drücken, werden wir wohl keine Probleme haben, Kunden zu finden, die das Risiko mit uns eingehen wollen.“

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Dies kam gerade als anonymer Leserbrief zum Thema rein:

"Eine horizontale Beschleunigung ist nicht zielführend. Diese um 90 Grad nach oben zu führen, ergibt gigantische Querbeschleunigungen, welche keine Nutzlast aushält."

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Jede Geschwindigkeitskomponente senkrecht zur Erdoberfläche ist verlorene Energie. Eine Bewegung 90 Grad nach oben somit ohne Funktion.

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