In diesem Jahr wäre Walt Disney stolze 118 Jahre alt geworden. Heute gilt er vor allem als der Erfinder von Micky Maus und der Mann hinter zeitlosen Trickfilmklassikern. Doch Walt Disney war auch ein echter Futurist. Er glaube an die Technik und die Zukunft – und hatte große Pläne. Einst plante er sogar eine eigene Zukunftsstadt, die in der Sumpflandschaft von Florida entstehen sollte. Wir erzählen die Geschichte, dieser ambitionierten Idee – die am Ende aber wohl zu groß gewesen war.
Von Michael Förtsch
Es war ein Tag der Pannen und Beinahe-Katastrophen im kalifornischen Anaheim. Das Thermometer stieg zur Mittagszeit auf brütende 38 Grad. Die meisten Wasserspender funktionierten nicht. Nicht wenige Gäste hatten sich mit gefälschten Tickets hineingeschlichen und sorgten für lange Schlangen an den Attraktionen – und vor den Toiletten. Andere stolperten über Kabel, die zu dicken Kameras und Mikrofonen führten. Immer wieder mussten Sanitäter ausrücken, um Menschen mit Hitzschlägen, Ohnmachtsanfällen oder aufgeschürften Knien zu behandeln. Und dennoch war dieser Tag, der 17. Juli 1955, ein voller Erfolg. Vor allem für Walt Disney. Denn der eröffnete an eben jenem Sommertag seinen ersten Vergnügungspark: das Disneyland.
„An alle, die an diesen glücklichen Ort gekommen sind: willkommen“, sagte Disney bei der großen Eröffnungsrede. „Disneyland ist euer Land. Hier erlebt das Alter schöne Erinnerungen an die Vergangenheit und hier kann die Jugend die Herausforderung und das Versprechen der Zukunft genießen.“ Es waren große Worte, die der damals schon 54-Jährige in die Live-Kameras des TV-Senders ABC sprach, dessen Crew die prominenten Freunde von Disney, die Schauspieler Ronald Reagan und Robert Cummings sowie den TV-Star Art Linkletter, für eine große Sondersendung durch den ganzen Park begleitete.
Der auf ehemaligen Walnuss- und Orangenplantagen gebaute Park mit einem Schneewittchenschloss, einer Wildwestwelt und einem Abenteuerland mit Dschungel kostete den Gründer damals noch Walt Disney Productions genannten Medienimperiums ganze 17 Millionen US-Dollar. Heute wären das mehr als 161 Millionen Dollar. Doch für das Filmstudio, das in den 1940er Jahre tief in die roten Zahlen abgerutscht war, entpuppte sich die Megainvestition als grandioser Zug. Denn der Park war trotz des mehr als holprigen Starts ein Touristenmagnet. Schon bald zog er mehrere Millionen Gäste pro Jahr an, die sich freudig in der sauberen, gepflegten und nach einigen Monaten auch reibungslos funktionierenden Parallelwelt verloren.
Genau das war das Ziel von Walt Disney. Er wollte eine Umgebung schaffen, die frei war von all den Unannehmlichkeiten und Lästigkeiten, die er mit seinen Kindern in anderen Vergnügungsparks erlebt hatte. Er wollte keinen Müll auf den Gehwegen, keine verschlungenen Wege, auf denen sich die Besucher verirren, und vor allem wollte er Attraktionen, die mehr sind als aufgeblasene Kirmesstände. Er wollte einen besseren, einen perfekten Ort, der einfach Freude bereitet.
Aber, fragte sich Walt Disney, mit Blick auf seinen Park: Ginge das nicht auch eine Nummer größer? Eine perfekte Stadt, ein perfektes Land, eine perfekte Gesellschaft? Könnte man nicht auch davon bessere und ideal funktionierende Versionen erschaffen. Ohne Verkehrschaos, Arbeitslosigkeit, Smog und vor allem ohne den von ihm so gehassten Weg zur Mülltonne. Wäre nicht eine Stadt machbar, die stetig an der Speerspitze der technologischen Entwicklung steht? Seine Antwort: Wieso eigentlich nicht? Es müsste nur jemand versuchen. Und dieser jemand wollte er sein.
Die Stadt der Zukunft
Elf Jahre nach der Eröffnung von Disneyland trat Walt Disney in den Halle von WED Enterprises, dem Disney-Unternehmen, das sich um die Planung und Konstruktion von Disneyland gekümmert hat, vor eine Kamera. Hinter ihm: eine übermannsgroßen Karte. Mit ruhiger Erzählerstimme, wie man es von ihm gewohnt war, erklärte Walt Disney, was er in den nächsten Jahren vorhatte: Die Verwirklichung der „aufregendsten und herausfordernsten Aufgabe, die wir bei Walt Disney Productions jemals angegangen sind“. Ihr Name: das Florida Project. Westlich von Orlando, zeigte Walt Disney auf der großen Karte, wolle er einen weiteren Park errichten lassen. Fünfmal größer als Disneyland, viel moderner und fantastischer würde er ausfallen. Er würde eine ganze Disney World werden.
Der „wichtigste Teil unseres Florida Project, das Herz von allem“, sagte der Multimillionär aber darauf, würde vor den Toren des Vergnügungsareals liegen. Eine Stadt. Eine, die ganz anders wäre als alle übrigen Städte. Sie würde eine Experimental Prototype Community of Tomorrow – oder kurz: EPCOT – werden, eine Experimentalstadt also, die Vorbild für Städte in der ganzen Welt werden könnte. Dort wollte Disney nicht weniger als eine neue Form des urbanen und innovationsgetrieben Zusammenlebens erproben.
Was Walt Disney und sein Team erdacht hatten, war gigantisch. Die Stadt, die von einigen seiner Mitarbeiter scherzhaft Waltopia genannt wurde, sollte geformt sein wie ein riesiges Wagenrad. Im Zentrum sollte ein Cosmopolitan-Hotel mit Tagungscenter stehen, das mindestens 30 Stockwerke in den Himmel ragen sollte, damit es von weithin sichtbar ist. Drumherum sollten sich in einem breiten Kreis Verwaltungsstellen und Bürokomplexe ziehen – ebenso wie Restaurants, Kinos, Theater, Nachtclubs und Ladenstraßen. Die einzelnen Passagen sollten dabei Orten wie Paris, Rom oder auch bayrischen Dörfern nachempfunden sein.
Der dichte Stadtkern sollte komplett von einer Dachkonstruktion mit Wiesen, Wegen, Bäumen, Helikopterlandeplätzen und einzelnen Glaskuppeln überspannt sein. Dadurch sollten die Besucher selbst im schwül-heißen Florida-Sommer stets das Klima eines lauen Sommerabends erleben und ohne durchgeschwitzte Hemden und Blusen shoppen können. Für einzelne Hochhäuser sollten es Aussparungen in dem megalomanischen Dach geben, so dass Büroarbeiter ebenso ohne Anstrengungen und Schweißflecken an ihren Arbeitsplatz und wieder nach Hause kämen.
Um das Zentrum herum planten Disney und sein Team einen Gürtel mit Parks und Wiesen. An den sollten 15 große Appartementblöcke grenzen. Auch Schulen, Kindergärten, Kirchen, Tennis-, Basketball- und Baseballplätze sollten dort zu finden sein. Dahinter würden sich dann wie Blütenblätter zahlreiche dünner besiedelte Wohnbezirke mit Ein- und Mehrfamilienhäusern mit Gärten, Wiesen und Parks auffächern. EPCOT war für maximal 20.000 Einwohner entworfen. Denn Walt wollte sicher gehen, dass jeder einen Job im Stadtzentrum, im vor der Stadt angedachten Industrie- und Geschäftspark oder im unweit gelegenen Disney World bekäme.
Der Verkehr, in dem Autos fast überflüssig sind
Wie Walt Disney beteuerte, sollte EPCOT eine Stadt sein, die „mit dem Gemeinwohl“ startet und die der „Lebensfreude der Menschen verschrieben ist, die dort wohnen, arbeiten und spielen“. Und das bedeutete für ihn auch eine neue, moderne und vor allem beiläufige Art der Mobilität. Wer von weither nach EPCOT kommt, sollte mit dem Flugzeug an einem unweit gelegenen Flughafen, dem Disney World Airport oder auch Airport of Tomorrow, ankommen. In einem eigenen futuristisch geformten Empfangszentrum sollten Gäste aus aller Welt in ihrer Landessprache begrüßt und unterstützt werden.
Für die Weiterreise war eine Einschienenbahn geplant. Die Technik hatte Disney bei einer Reise durch Deutschland entdeckt– und hielt sie für ziemlich zukunftsweisend. Bereits 1959 war daher in Disneyland eine von der heute lange vergessenen Alweg-Forschung GmbH konzipierte und von Disney weiterentwickelte Monorail-Strecke eingeweiht worden;. Richard Nixon und seine Familie waren die ersten Mitreisenden. Die Trasse in Florida sollte deutlich länger ausfallen – und deutlich schnellere Fahrten ermöglichen. Ziel war es, die Passagiere im engen Takt und in weniger als einer halben Stunde vom Flughafen nach EPCOT oder weiter in den Park zu fahren.
Autos hätte es in EPCOT zwar gegeben, aber sie sollten möglichst unsichtbar, von Radfahrern und Fußgängern abgeschottet und abgesehen von Wochenendausflügen eigentlich auch überflüssig sein. Wer über die Highways in die Stadt zu Besuch gekommen wäre, wäre in breite Tunnel unter den Wohnanlagen geleitet worden, wo sich riesenhafte Parkhäuser und eine durchgehende Schnellstraße bis Disneyland befinden sollten. Der Lieferverkehr wäre auf einem weiteren Untergrundareal abgewickelt worden. Die Kuriere hätten Waren und Nahrungsmittel an Rampen abgeladen, wo sie in einem Netz aus Schächten und Lastenaufzügen umher und dann zielgenau an die Oberfläche transportiert worden wären.
Ein Mobilitätszentrum, das unter dem gigantischen Hotel geplant war, sollte dafür sorgen, dass der ganze Verkehr reibungslos und ohne Verwirrung läuft. Von diesem Zentrum aus sollten die Einwohner oder Besucher nahtlos in sogenannte WEDWay People Mover umsteigen. Das sollten vergrößerte Fassungen der für das Disneyland entwickelten Schienenwagen sein, die dort im Sommer 1967 ihren Dienst aufnahmen. Sie hätten in 20 Routen die Stadt durchzogen und die Passagiere in wenigen Minuten von einem zum anderen Ende der EPCOT-Siedlung gebracht. Die einzelnen Stationen sollten so gelegen sein, dass jeder sein Heim fußläufig in weniger als fünf Minuten erreichen könnte. „Der Fußgänger soll König sein“, war das Motto.
Aber die Mobilität sollte nicht nur für die Menschen existieren. In EPCOT hätte Walt Disney nie mehr seinen Müll vor die Tür an die Straße tragen müssen. Stattdessen sollte in jedem Haus ein Müllschacht existieren. Dort wäre der Abfall von einer Presse komprimiert und über eine Art Rohrpost zu einer Sammelstelle gesaugt worden. Das System hatten sich Disney, die Ingenieure John Hench und Richard Irvine in Schweden abgeschaut. Es hätte in umgekehrter Form auch zur Zustellung von Post und Päckchen funktionieren können.
Das Leben mit modernster Technologie
Auch den Rest des Lebens in EPCOT stellte sich Walt Disney anders vor als in der bisherigen Welt. Die Einwohner hätten ständig von der neuesten, cleversten und fortschrittlichsten Technologie umgeben sein sollen. Wäre eine Familie in ein Haus gezogen, wäre es von vornherein mit den aktuellsten TV-Geräten, Heimcomputern, Telefonsystemen, Waschmaschinen und der besten Küche ausgestattet gewesen, die es gibt. Nicht mit denen, die in Läden in anderen Städten zum Kauf bereitstehen, sondern mit denen, die vielleicht erst in ein, zwei oder drei Jahren überhaupt auf den Markt kommen.
Dafür hätten Unternehmen wie IBM, die Radio Corporation of America, General Electric, Ford, Sarnoff, DuPont, Westinghouse und andere große US-Technologie- und Industrieunternehmen dieser Zeit sorgen sollen. Sie sollten einen inhärenter Bestandteil des großen Experimentes darstellen. Walt Disney wollte sie überzeugen, ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in den Industrie- und Technologiepark zu verlegen, der außerhalb von EPCOT geplant war. Dort sollten sie direkt nebeneinander angesiedelt werden, so dass ihre Mitarbeiter sich treffen und austauschen können. Intellektuelle, wissenschaftliche und technologische Synergieeffekte sollten brodeln.
Die Unternehmen hätten mit EPCOT eine ganze Stadt dafür gehabt, ein neues Gerät oder eine neue Technologie am lebenden Subjekt zu testen. Ein EPCOT Institut hätte die richtigen Probanden gesucht, dabei geholfen Test- und Studienergebnisse zu erheben – und dadurch dafür Sorge getragen, dass neue Produkte und Technologien schneller, besser und zuverlässiger auf den Markt kommen. Walt Disney glaubte, EPCOT würde dadurch eine „Gemeinde sein, die nie fertig ist“, „immer Neues einführt und testet“, immer „im Werden begriffen“ ist und als Schaufenster für die Welt herhalten kann.
Das Recht, fast alles zu tun
Für Walt Disney stellte EPCOT keinen bloßen Tagtraum dar. Denn: Was stünde dem Plan schon im Wege? Zu Beginn der 1960er-Jahre war Walt Disney dicker im Geschäft als je zuvor. 101 Dalmatiner , Das Dschungelbuch und natürlich der mit jedem Jahr besser besuchte Disneyland-Park sorgten dafür, dass dem Firmenlenker mehr Geld zur Verfügung stand als mancher Nation. Still und heimlich hatte er zu Beginn des Jahrzehnts daher bereits über eigens gegründete Immobilienfirmen mit kryptischen Namen wie Compass East Corporation oder Latin-American Development die nötigen Ländereien für sein damals noch Project X genanntes Florida-Projekt aufgekauft.
„Hier in Florida haben wir etwas Besonderes, das wir bei Disneyland nicht hatten“, sagte Walt Disney später in seinem Flordia-Project-Film. „Es gibt genug Land, um all die Ideen und Pläne zu fassen, die wir uns ausmalen können.“ Insgesamt waren es letztlich rund 110 Quadratkilometer, die sein Team zusammengekauft hatte – eine Fläche etwas größer als Regensburg und doppelt so groß wie Manhattan. Disney und sein Team hatten durchaus auch anderswo nach Platz Ausschau gehalten, aber nie genug Fläche mit guter Verkehrsanbindung und Lage gefunden. Nicht in New Jersey, New York oder Missouri.
Dazu stand Walt Disney die Regierung von Florida ziemlich offen gegenüber. Jedenfalls nach dem Disney alle Hebel zog, um die Staatsbediensteten zu überzeugen, dass der Micky-Maus-Konzern mit seinem Experiment Arbeitsplätze, Industrie und damit Geld in den US-Bundesstaat holen könnte – sofern Disney alle Freiheiten gewährt werden. Und die wurden Disney tatsächlich mit einem umfangreichen Ausnahmen- und Gebietsaufwertungsgesetz zugestanden. Damit wurde aus dem Areal für die Stadt, den Park und Flughafen der Reedy Creek Improvement District, dessen Regierung aus Disney-Managern besteht.
Die Disney-Districtsverwaltung ist bis heute auf dem riesigen Gebiet für Feuerwehr, Bausicherheit, Energieversorgung, Wasseraufbereitung, Abfallentsorgung, Krankenversorgung, Natur-, Umweltschutz, Infrastruktur und teils auch Polizeiaufgaben zuständig. Bezahlt werden diese Aufgaben durch Abgaben der Grundbesitzer, die alle zum Disney-Konzern gehören. Damit ist Disney de facto für sich selbst zuständig. Sogar ein Atomkraftwerk dürfte Disney durch diese Regelung bauen und betreiben. Denn: „Hätte Walt Disney einen Reaktor zur Kernfusion bauen wollen, dann wollte er das auch können“, sagte der 2017 verstorbene Disney-Ingenieur Martin Sklar einmal.
Trotzdem wurde aus der Experimental Prototype Community of Tomorrow nichts. Aus Walt Disney World hingegen schon.
Warum nichts aus EPCOT wurde
Nachdem Walt Disney im Oktober 1966 vor der Kamera gestanden hatte, um sein EPCOT-Projekt vorzustellen, schien es tatsächlich, als würde es Realität werden. Doch den fertigen Film, der im Februar 1967 der Regierung von Florida und später dem TV-Publikum der USA vorgespielt wurde, konnte Walt Disney selbst nicht mehr sehen. Nur zwei zweieinhalb Monate zuvor, am 15. Dezember 1966, war Walt Disney an den Folgen eines Lungentumor gestorben. Wie sein langjähriger Kollege und Parkplaner Bob Gurr sich erinnerte, sei EPCOT „keine zehn Minuten nachdem Walts Körper erkaltet war“ ebenso verschieden.
Ganz so plötzlich war es zwar sicher nicht. Aber tatsächlich wurden die Pläne für die Stadt, den Flughafen und das Industrie- und Gewerbegebiet nur wenige Monate nach dem Tod von Disney offiziell eingestellt. Nur die Konstruktion der Disney World, deren erste Vorbereitungs- und Bauphase schon begonnen hatte, wurde weiterhin vorangetrieben. Den Managern der Disney Corportion und Walt Disneys Bruder Roy Oliver, der den Bau von Disney World überschaute, war EPCOT offenkundig zu groß, zu riskant, zu unvorhersehbar und überambitioniert – und die Verantwortung für eine ganze Stadtbevölkerung einfach zu viel. Außerdem waren zahlreiche Fragen zur Experimentalstadt vollkommen offen gewesen.
Unsicher war beispielsweise, ob der weiche Sumpfboden von Florida für das massive Untergrundstraßennetz und das riesige Hotelgebäude tatsächlich geeignet gewesen wäre. Auch ob und wie Disney das Megaprojekt finanzieren wollte, war bis zum Tod des Konzernlenkers nicht sicher. Selbst mit den prall gefüllten Kassen seiner Firma wäre der Bau der Stadt eine technische und finanziell schwer abzuschätzende Herausforderung gewesen. „Ein Projekt wie dieses“, hatte Disney selbst angedeutet, „ist so groß in seinem Umfang, dass es keine Firma alleine verwirklichen könnte.“ Wen er allerdings als Partner hinzuholen wollte, hatte er vor seinem Tod nicht verraten.
Was bleibt von Walt Disneys Vision?
Die Experimental Prototype Community of Tomorrow ist heute eine von zahlreichen geplatzten Utopien. Wobei nicht einmal so sicher ist, ob Walt Disneys futuristische Stadt von Morgen wirklich ein so utopischer Ort geworden wäre – zumindest was die Gesellschaft und Politik betrifft. Wer dort hätte wohnen wollen, hätte nicht einfach hinziehen können. Denn die Wohnungen und Häuser sollten nicht den Einwohnern gehören, sondern, wie alles andere auch, der Firma Disney.
Das Unternehmen hätte bestimmt, wer kommen und bleiben darf – oder auch: wer gehen muss. Rentner und Arbeitslose waren in EPCOT nicht erwünscht. „Eine der Voraussetzungen ist, dass die Menschen, die in EPCOT wohnen, helfen, es am Leben zu halten“, hatte Walt Disney gesagt. Und das hieß für Disney: „Jeder muss angestellt sein.“ Nur so hätte die Stadt die Voraussetzung erfüllen können, als ein gut kontrollierbares Labor für Disney und die US-Industrie zu funktionieren, deren Zielgruppe eben die klassische amerikanische Familie war.
Auch sonst hätten die Einwohner keine großen Mitentscheidungs- oder Mitbestimmungsrechte gehabt. Sogar Einschränkungen ihrer Grundrechte hätten sie hinnehmen sollen. Disney wollte ein strickt geregeltes Gemeinwesen. Er wollte den Einwohnern über einen Kodex vorschreiben, wie sie sich in der Öffentlichkeit kleiden und verhalten sollen. So lässt sich fragen, ob EPCOT, selbst wenn es sonst funktioniert hätte, eine lebenswerte Stadt gewesen wäre. Vielleicht ist es daher ganz gut, dass EPCOT nicht zur Realität wurde, sondern ein gerne verklärter Zukunftstraum blieb. Eben genauso wie das Utopia aus Thomas Morus Roman.
Dennoch ist Walt Disneys Vision nicht ganz dahin. Im heutigen Walt Disney World Resort, das 1971 die Tore öffnete, existiert EPCOT als Technik- und Kulturpark. Im Zentrum steht dabei eine riesige Silberkugel, das Raumschiff Erde, in dem in einer Rundreise die Technikgeschichte der Menschheit nachgezeichnet wird. Ebenso wurden viele für die Idealstadt erdachte Konzepte zur Abfallbeseitigung, zur Wartung oder zum Transport in den Disneyparks rund um die Welt, aber auch auf Messegeländen, Einkaufsmalls und Flughäfen umgesetzt. Darunter die Einschienenbahnen, der People Mover, und überdachte Passagen.
Und irgendwie ist auch aus Walt Disneys Traum für eine eigene Stadt letztlich noch etwas geworden. Nur nicht in Form einer futuristischen Zukunftsgemeinde, sondern einer anderen Art von Idealstadt: im 1994 nur unweit von Disney World und von der Firma Disney gegründeten Celebration. Die Stadt ist mit sauberen Straßen und weißen Häusern als Musteridylle konzipiert und Kolonialsiedlungen wie Nantucket und Charleston nachempfunden. Allerdings wurde sie mit der ihrer Zeit modernsten Technologie ausgestaltet. Dadurch finden sich in Celebration auch heute noch einige der fortschrittlichen Schulen und Fortbildungs- und Gesundheitseinrichtungen der Vereinigten Staaten.
Auch sonst lebt der Geist von Walt Disneys EPCOT weiter fort. Denn immer wieder kommen Konzepte für moderne Plan- und Idealstädte auf, die mal mehr, mal weniger erfolgreich verlaufen – aber stets inspirieren. Seit 2006 ersteht mit Masdar in den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Ökostadt, die vollkommen CO2-neutral funktionieren soll. Ein Kryptowährungsmillionär will in der Wüste von Nevada eine Stadt gründen, die vollkommen auf die Blockchain-Technologie aufsetzt.
In Saudi-Arabien wird mit Neom eine High-Tech-Stadt konzipiert, die dem Silicon Valley den Rang ablaufen soll. Und auch Bill Gates hat vor, eine Stadt zu gründen, die dank Vernetzung und Digitalisierung das Zeug haben soll, zu einer Stadt der Zukunft zu werden. Das hätte Walt Disney wohl ganz gut gefallen.
Teaser-Bild: The Walt Disney Company
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