26. März 2025
Vibe Coding: Wie mich KI zum „Programmierer“ gemacht hat

Heutige KI-Modelle sind sehr gut darin, Computercode in einer Vielzahl von Programmiersprachen zu erzeugen. Das ermöglicht es selbst Laien, eigene Programme, Websites und Apps zu erstellen. Im Internet hat sich dafür der Begriff „Vibe Coding“ etabliert. Der Code selbst, davon sind einige überzeugt, spielt dabei kaum noch eine Rolle. Sondern der richtige Vibe. Unser Redakteur Michael Förtsch hat das ausprobiert, um ein ganz spezielles Problem zu lösen – und innerhalb einer Stunde eine kleine Windows-Anwendung nur mit Hilfe von Chatbots erstellt.
Von Michael Förtsch
Es gibt dieses berühmte Interview mit Rick Rubin, dem legendären Musikproduzenten, der einst den Beastie Boys, Run-DMC und Public Enemy zum Durchbruch verhalf und in den letzten Jahren mit Musikgrößen wie Lady Gaga, Imagine Dragons und Kesha gearbeitet hat. In diesem Interview mit dem CNN- und CBS-Journalisten Anderson Cooper sagte Rubin, dass er „keine technischen Fähigkeiten“ habe. Er könne weder ein Soundboard bedienen noch ein Instrument gut spielen. Und überhaupt: „Ich weiß nichts über Musik“, sagt er grinsend – und meint es ernst. Rick Rubin hat, obwohl er als einer der einflussreichsten Menschen in der Musikbranche gilt, keinerlei musikalische Vor- oder Ausbildung. Aber: „Ich weiß, was ich mag und was ich nicht mag“, sagt der Produzent. Er habe volles Vertrauen in seinen Geschmack und „die Fähigkeit, das auszudrücken, was ich fühle“ – und beides habe sich für viele Künstler als sehr hilfreich und wertvoll erwiesen.
Ich bin nicht gerade Rick Rubin. Schon gar nicht, was die Musik angeht – und auch nicht den beeindruckenden Bartwuchs. Aber ein wenig geht es mir schon wie ihm. Und zwar, wenn es ums Programmieren geht. Ich habe mal ein bisschen Visual Basic gelernt, ein bisschen C++, ein bisschen HTML und CSS, aber im Grunde weiß ich nicht, wie das mit dem Coden wirklich funktioniert. Denn mir hat immer die Geduld gefehlt, mich wirklich damit auseinanderzusetzen und eine Programmiersprache zu erlernen. Das hat mich in der Vergangenheit immer wieder geärgert. Und zwar dann, wenn ich ein bestimmtes Problem hatte oder ein Programm für eine eher obskure Aufgabe brauchte. Ich wusste dann ganz genau, was ich wollte, was so ein Programm können sollte und was nicht. Aber das entsprechende Programm gab es so natürlich nicht. Oder es war überladen mit unnötigen Zusatzfunktionen vollgestopft – oder einfach unverschämt teuer.
Ich hatte gerade wieder so einen Fall: Seit kurzem besitze ich ein anamorphes Objektiv für meine Fotokamera – eine Technik, die seit den 1950er-Jahren in der Filmproduktion eingesetzt wird, um Breitbildformate wie 16:9 oder 2,76:1 auf den vergleichsweise schmalen 35mm-Film zu pressen. Eine anamorphe Linse staucht das Bild horizontal beim Dreh und ein Projektor entzerrt es später mit einer ebensolchen Linse wieder – so wurde das breite Kinoformat populär. Auch heute noch setzen viele Hollywood-Produktionen auf anamorphe Objektive, etwa The Batman oder The Creator, deren digital aufgenommene Bilder nachträglich in der Filmschnittsoftware entzerrt werden. Für mich geht’s aber nicht um Film, sondern um Fotos – und da sind solche Objektive noch relativ neu. Entsprechend fehlt es in Programmen wie Capture One oder Lightroom an einer Funktion zur automatischen Entzerrung. Also habe ich mir ein kleines Photoshop-Skript gebaut, das meine Fotos horizontal um den Faktor 1,33 streckt. Aber auch das war irgendwie müßig.
Ich wollte ein kleines, dediziertes Programm. Warum also nicht selbst programmieren – mit Künstlicher Intelligenz? Denn mehr als schiefgehen kann es ja nicht.
Folge dem Vibe
In all den Meldungen über neue Sprachmodelle wird immer wieder erwähnt, wie gut diese inzwischen in der Lage sind, Code für Programme zu erzeugen. Und das in den unterschiedlichsten Programmiersprachen. Vor zwei Monaten schrieb Andrej Karpathy, Entwickler und Gründer der KI-Schule Eureka Labs, dass LLMs mittlerweile so gut seien, dass er sich um den Programmiercode nicht mehr kümmere. Er sage den KI-Programmierprogrammen nur noch, was er wolle. „Ich akzeptiere immer alles, ich lese keine Diffs – die protokollierten Änderungen beim Schreiben von Code –mehr“, schrieb er. Selbst um Fehlermeldungen kümmere er sich nicht wirklich. Denn auch das übernehme die KI. Und wenn nicht, „arbeite ich einfach [um die Fehler] drumherum oder bitte um zufällige Änderungen, bis der Fehler verschwindet“.
Karpathy nannte diese Art der Entwicklung von Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz Vibe Coding. Denn er würde sich ganz dem Fluss der Künstlichen Intelligenz und den Schwingungen hingeben, die er beim Wachsen der Programme und dem generativen Prozess empfindet. Er vergesse dabei, dass der Code überhaupt existiert. Er forme alles mit seinen Worten. Diese esoterisch aufgeladene Denkweise war mir nicht ganz geheuer – oder eher: Ich fand sie etwas sehr albern. Aber wenn auch nur die Hälfte davon so stimmt und funktioniert, dachte ich, dann sollte ich das irgendwie hinkriegen.
Es gibt mit Cursor, Void, Cline, Zed, Loveable und Github CoPilot einige KI-Entwicklungseditoren, die von Vibe-Codern als ideale Werkzeuge gefeiert werden. Diese ermöglichen es zum Teil, den Programmiercode vollständig zu verbergen und via der Sprach-zu-Text-KI Whisper Flow sogar mit der Stimme zu arbeiten. Doch das schien mir für meine Zwecke etwas too much. Also war meine erste Anlaufstelle einfach ChatGPT. Ich schrieb dem Chatbot ...
Hey ChatGPT, how are you? I want to write an application that can change the aspect ratio of images. Specifically, I'm photographing with a new anamorphic lens and the original pictures are squeezed, so I want to desqueeze them. And I need a simple application to do that with a whole bunch of pictures in one go.
Die Antwort von ChatGPT? Es hilft mir gerne, ihm gefällt die Idee für so ein praktisches Projekt, aber es würden gerne noch ein paar Eckpunkte klären. Unter anderem, was für eine App das überhaupt werden soll. Soll es eine klassische Desktop-Applikation werden – für Windows, Linux oder Mac? Oder eher ein Tool für die Kommandozeile? Oder vielleicht eine Web-App? Und welche Programmiersprache käme in Frage, fragte ChatGPT. Aber egal, was ich machen wolle, der Chatbot versicherte mir: „Der grundlegende Teil der Bildbearbeitung ist einfach zu implementieren“.
Ich entschied mich für eine sehr einfache Desktop-Anwendung und die Programmiersprache Python, mit der ich in den letzten Jahren zumindest einige kleine Berührungspunkte hatte. Danach ging alles erstaunlich schnell. Ich konkretisierte meine Vorstellungen, wie das Programm funktionieren sollte: Ich wollte mehrere Bilder gleichzeitig auswählen können, eine Möglichkeit haben, den Desqueeze-Faktor einzustellen und die Bilder dann wieder in einem Verzeichnis meiner Wahl abzuspeichern. Mehr sollte das Programm zunächst nicht können. In wenigen Sekunden generierte ChatGPT mit dem Modell GPT-4o den entsprechenden Code, der in einer entsprechenden Übersicht auch gleich erprobt werden konnte. Dabei gab es zwei Fehlermeldungen. Mit einem einfachen Tastendruck konnte ich ChatGPT anweisen, diese zu beheben. Ich konnte zusehen, wie es den Code live korrigierte.
Ich dachte, das Programm wäre schon fertig. Aber anscheinend hatte ChatGPT vergessen, dass ich eine Benutzeroberfläche haben wollte. Ich erinnerte den Chatbot daran, der sich sofort entschuldigte und das Programm entsprechend umschrieb, um Schaltflächen und Eingabefester und Tkinter einzubauen – eine Werkzeugsammlung für Python, die es erlaubt, Programme, die normalerweise über die Kommandozeile gesteuert werden, mit einer grafischen Benutzeroberfläche auszustatten. Auch das dauerte nur ein paar Sekunden. Wieder testete ich den Code mit „Ausführen“. ChatGPT meldete daraufhin in der Code-Konsole, dass es Tkinter nicht installieren und verwenden könne, da der Chatbot dafür nicht ausgelegt sei. Ich müsse das auf meinem eigenen Computer machen. Außerdem fand es drei neue Bugs, die sich beim Umschreiben eingeschlichen hatten. Zwei hat ChatGPT sofort korrigiert. Aber der dritte Fehler... der blieb, egal wie oft ich ChatGPT bat, ihn zu beheben.
Nach etwa zehn Minuten des Ausprobierens und der Fehlersuche entschied ich mich, eine zweite Meinung einzuholen. Ich wechselte zum Anthropic-Chatbot Claude und kopierte den gesamten Code in sein Eingabefenster. Claude analysierte ihn und fand heraus, was der Code tun sollte. Ich wies Claude ohne weitere Details darauf hin, dass irgendwo im Code ein Fehler sein muss. Der Chatbot analysierte erneut, fand die Stelle und korrigierte sie ohne Probleme.
In the last if statement, you have if name == '__main__': but it should be if name == '__main__': (with double underscores on both sides).
Mit dem nun korrigierten Code ging ich zurück zu ChatGPT und ließ den Code erneut laufen. Diesmal ohne Fehler.

Damit war die Anwendung nun tatsächlich fertig. Zumindest in Form eines Python-Skripts, das ich auf meinem eigenen Rechner mit Python ausführen konnte, nachdem ich noch Pillow installiert hatte, eine Bibliothek, die es Python ermöglicht, Bilder zu bearbeiten. Und es funktionierte! Aber das war mir nicht genug. Ich wollte meinen Desqueezer, wie ich ihn nannte, als normale EXE-Anwendung für Windows. Auch hier half mir ChatGPT. Es gab mir die Befehle, um PyInstaller für Python zu installieren und mit diesem Werkzeug das Skript in eine EXE-Datei umzuwandeln. Das war auch in weniger als fünf Minuten erledigt.
Die Zukunft des Programmierens?
Es hat mich weniger als eine Stunde gekostet, ohne viel Erfahrung ein Programm aus dem Nichts zu entwickeln. Oder besser gesagt: zu generieren. Eines, das wenig macht, aber genau das, was es machen soll – und zwar schnell und gut. Jetzt jedenfalls. Denn obwohl der Desqueezer gut funktioniert hat, habe ich schon am nächsten Tag ein paar kleine Verbesserungen vorgenommen. Unter anderem habe ich die Möglichkeit eingebaut, den Ausgabeordner und den Desqueeze-Faktor direkt auf dem Startbildschirm zu wählen und die entpackten Bilder automatisch mit einem Namenszusatz zu versehen. Aber auch so: Es ist kein kompliziertes Programm. es funktioniert und hat mir schon einige Klicks und Nerven erspart.
Ich musste selbst keinen Programmcode schreiben. Ich musste nicht einmal wissen, was der generierte Code macht, sondern vertraute der Künstlichen Intelligenz und meiner Fähigkeit, ihr mitzuteilen, was ich von ihr erwarte. Auch wenn ich hier und da im Code-Fenster ein paar Zeilen wiedererkannt und verstand – und dabei Lust bekam, mich vielleicht wieder etwas mehr mit dem Programmieren zu beschäftigen. Die Sprachmodelle als Vermittler schufen eine Abstraktionsebene zwischen mir und dem Code, die fast etwas Magisches hatte. Ich sagte, was ich wollte, das Modell interpretierte und führte aus. Ich würde mir jetzt nicht unbedingt zutrauen, mit dieser Methode komplexere Anwendungen zu bauen, auf die sich andere verlassen müssen. Aber ich sehe für mich und andere Möglichkeiten, eigene Ideen umzusetzen, für deren Realisierung es vor wenigen Jahren unbedingt einen Programmierer gebraucht hätte.
Mit Vibe Coding entwickelt sich eine neue Methode des digitalen Schaffens. Die Entwicklung wird durch Künstliche Intelligenz, durch Tools wie ChatGPT, Claude, Cursor und andere auf revolutionäre Weise demokratisiert. KI ermöglicht es Nicht-Entwicklern, ihre digitalen Probleme gezielt anzugehen, Kreativen, ihre Ideen in Worte zu fassen und über Plattformen wie Vercel, Github und Co. in die Welt zu tragen, um andere daran teilhaben und partizipieren zu lassen. Das bedeutet nicht, dass Programmierkenntnisse überflüssig werden oder dass es in Zukunft keine Programmierer mehr braucht. Aber es könnte sein, dass sich der Fokus von versierten Codern mit fundierten Programmierkenntnissen verschiebt. Weg von der Erstellung eines Programms von Anfang bis Ende, hin zur Verfeinerung, Absicherung und Korrektur. Und das muss nichts Schlechtes sein.
Es war übrigens genau an dieser Stelle im Text, als mir auffiel, dass ich keineswegs der erste war, der Rick Rubin mit Vibe Coding in Verbindung brachte. Er ist sogar schon zu einer Art Maskottchen dieser neuen Art des Programmierens geworden. Denn er steht sinnbildlich dafür, sich nicht in technischen Details wie dem Code zu verlieren, sondern den Vibe durch die Künstliche Intelligenz arbeiten zu lassen. Das macht das Entwickeln als Prozess aber nicht unwichtig, sondern hebt es lediglich auf eine andere Ebene. Denn am Ende liegt es immer noch an einem selbst, auch zu kommunizieren, was die Künstliche Intelligenz kreieren soll. Es braucht die Fähigkeit zu artikulieren, wohin der Vibe einen tragen soll, zu wissen, was die Anforderungen und Bedürfnisse sind. Genau das versuche ich bereits für ein weiteres kleines Vibe-Coding-Projekt herauszufinden, das etwas umfangreicher werden soll.
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Michael Förtsch
Leitender Redakteur
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Cooler Artikel!

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Very nice. Und hier Karpathy himself vibing eine iOS Kalorien verbrenn tracker app in unter 1std …. :) https://x.com/karpathy/status/1903671737780498883?s=46&t=qm5xjtUxsWUW4vdZXOl59w
Ein live vibe coding on stage vielleicht beim Festival? :)
Die Meinung von Programmierern dazu (YouTube-Video) :D